Die Geburt des Schamanen-Künstlers

Büttners Hirschführung

Als dem jungen Beuys der Hirschführer Büttner erstmals begegnete – vermutlich in jenen dichten Wäldern des Niederrheins, wo später die Mythologie des Fettecken-Künstlers ihre ersten Wurzeln schlagen sollte –, war das wohl eine jener Begegnungen, die das Schicksal mit der Beiläufigkeit einer Waldlichtung inszeniert. Büttner, dessen Namen heute bestenfalls Wildkundler kennen, führte den angehenden Jahrhundertkünstler zwischen Buchen und Hirschrufen hindurch zu einer Erkenntnis, die das gesamte Kunstverständnis der Nachkriegszeit revolutionieren würde.

Die Szenerie wirkt zunächst banal: Ein erfahrener Jäger zeigt einem Kunstinteressierten die Geheimnisse des Waldes, erklärt Fährten und Brunftzeiten, demonstriert die stumme Kommunikation zwischen Mensch und Tier. Was Büttner jedoch unwissentlich vorführte, war die Urform dessen, was Beuys später zur erweiterten Kunstdefinition ausbauen sollte – jene schamanistische Grenzüberschreitung zwischen den Welten, die seine Performances zu quasi-rituellen Akten machte.

Denn während Büttner sein Wild über Intuition und jahrzehntelange Erfahrung las, beobachtete Beuys einen Menschen, der mit Tieren sprach, ohne zu sprechen, der Spuren deutete wie andere Texte lesen, der das Unsichtbare sichtbar machte. Die Verwandlung war perfekt: Aus dem bürgerlichen Hirschführer wurde in Beuys‘ werdender Künstlerphantasie ein Archetyp des Vermittlers zwischen Natur und Kultur, zwischen dem Stummen und dem Artikulierten.

Jahre später, als Beuys mit seinem toten Hasen durch die Düsseldorfer Galerie Schmela wandelte und ihm die Bilder erklärte, war Büttners Geist anwesend – jener Mann, der einst demonstriert hatte, wie Kommunikation jenseits der Sprache funktioniert. Die berühmte Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ wurde so zur Hommage an einen vergessenen Hirschführer, der den Künstler gelehrt hatte, dass Verstehen auch ohne Worte möglich ist.

Was Büttner dem jungen Beuys unbewusst vermittelte, war eine Urkunde des Schamanentums: die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen zu wandeln, mit dem Tierreich in Dialog zu treten und dabei gleichzeitig die Rolle des Interpreten für jene zu übernehmen, die diese Sprache noch nicht sprechen. Der Hirschführer wurde zum Prototyp des Künstler-Schamanen, lange bevor diese Figur in den Diskursen der Kunstwelt auftauchen sollte.

Heute, da Büttners Name in keiner Kunstgeschichte steht, bleibt er doch als Geburtshelfer einer der radikalsten Kunstauffassungen des 20. Jahrhunderts präsent. In jedem Beuys’schen Ritual, in jeder seiner meditativen Tier-Begegnungen schwingt die Erinnerung an jenen praktischen Mystiker mit, der dem späteren Weltstar einst zeigte, wie man mit dem Wald spricht.

So gesehen war Büttner vielleicht der eigentliche Erfinder der Sozialen Plastik – er formte, ohne es zu wissen, einen Künstler, der wiederum die Gesellschaft zu formen suchte. Die Ironie der Kunstgeschichte will es, dass der wahre Schamane anonym blieb, während sein Schüler zum Mythos wurde.