Der eurasische Bogen

Über die Kunst des Gehens zwischen Utopie und Verwaltung

Nach einem Konzepttext von Sascha Büttner

Die Linie des Unmöglichen

Ein Projekt und ein Traum – 13.000 Kilometer einer spezifischen Sehnsucht zwischen Kap Finisterre und Kap Deschnjow. Der Eurasis-1 existiert als kartographische Fiktion, als Wandernde Brücke aus Schritten und Begegnungen. Seine Realität liegt weniger in der administrativen Umsetzung denn in der stillen Revolte des Gehens gegen sesshafte Ordnungen.

Dieser Entwurf folgt Vilém Flussers Intuition: „Wenn Sesshafte zu Nomaden werden, dann wird der Staat absterben.“ Der eurasische Bogen operiert als skulpturale Geste kontinentalen Ausmaßes – eine Bewegungsplastik aus Schritten statt aus Bronze. Jeder Schritt mutiert zur künstlerischen Intervention, jede Begegnung zum sozialen Material einer kollektiven Gehskulptur.

Die Geographie der Unmöglichkeit

Die Route führt durch eingefrorene Konfliktzonen und aufgetaute Hassgebiete, durch Regionen, wo Menschen sich wegen Linien bekriegen, die Generationen vor ihnen auf Karten einzeichneten. Das eigentliche Werk manifestiert sich in der systematischen Dekonstruktion eurozentrischer Weltbilder durch körperliche Erfahrung. Wanderer würden physisch erfahren, was Kartographie verschleiert – dass die übliche Ost-West-Logik ihre vermeintliche Selbstverständlichkeit verliert, sobald sie zu Fuß durchmessen wird.

Der Eurasis-1 operiert als kontrapunktische Bewegung zu nationaler Territorialität, als Grenzüberschreibung im doppelten Wortsinne. Seine Kraft entfaltet sich möglicherweise gerade durch die Unmöglichkeit seiner vollständigen Realisierung – als Utopographie eines Territoriums, das primär in der Sehnsucht existiert und vorstellungsweise bereist wird.

Bürokratie der Grenzenlosigkeit

Paradoxerweise organisiert sich diese Vision der Entgrenzung als klassisches Kulturprojekt: internationale Dachorganisation in Genf, nationale Komitees, wissenschaftlicher Beirat, 200 Millionen Euro verteilt über fünfzehn Jahre wie Brotkrumen für die Tauben des Friedens. Die Verwaltung der Verwaltungslosigkeit erzeugt ihre eigenen absurden Momente – Eurasis-1-Pässe für Menschen, die zu groß geworden wären für die kleinen Kästen der Nationalstaaten.

Phase 1 bis 4, strukturiert wie Symphonien, geplant wie Ernten. Doch jeder, der je gewandert ist, weiß: der wichtigste Teil steht nicht in den Plänen. Der Moment, wenn man einen Hügel erklimmt und plötzlich eine neue Landschaft vor einem liegt, die kein Reiseführer beschrieben hat.

Die Kunst der undokumentierten Bewegung

Das eigentliche Potential liegt im „undokumentierten Reisen“ – gefährlich, tödlich endend, aber wichtig, weil es Kontinente und Menschen auf eine Weise verbindet, die kein Visum je ermöglichen könnte. Durch Wälder und über Flüsse, mit Messer und Notizbuch und der Kenntnis, dass Grenzen nur dort existieren, wo Menschen sie sehen wollen.

Diese Praxis des Gehens wird zur performativen Kritik staatlicher Souveränität, zur körperlichen Demonstration, dass Menschen älter sind als Staaten und dass Wandern älter ist als Grenzen. Ein manuelles Schreiben mit den Füßen, eine Fußnoten-Poesie für jene, die folgen werden – als Netzwerk von Informationen, das ausschließlich denen zugänglich ist, die es brauchen. Als Widerstand, als Gehzeugnis.

Teilstücke der Revolution

Der Eurasis-1 existiert bereits – fragmentiert, lokal, in kleinen Revolutionen des Gehens. Lokale Initiativen, Netzwerke von Menschen, die verstehen, dass ein Schritt vor die Haustür schon der Beginn einer Weltreise ist. Jeder Wanderweg als Protest gegen die Sesshaftigkeit der Seele und die Bürokratie des Herzens.

Diese Fragmentierung ist kein Mangel, sondern das eigentliche Kunstwerk – eine Konstellation von Möglichkeiten statt einer linearen Route. Die Revolution liegt in der systematischen Dekonstruktion der Vorstellung, dass Bewegung ein Privileg sei und keine Grundbedingung menschlicher Existenz.

Die Zeitenwende der kleinen Schritte

In einer Epoche, die sich als Zeitenwende begreift und dabei meist den Rückfall in alte Muster der Aufrüstung meint, fehlt es an konkreten Projekten, die Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammenbringen, ohne sie zu vereinnahmen. Der Eurasis-1 könnte ein solches Projekt sein – weniger als touristische Attraktion denn als Übungsfeld für eine neue Art des Zusammenlebens.

Der wahre Erfolg liegt weniger in der Zahl der Wanderer, die den ganzen Weg gehen (das werden immer wenige sein, möglicherweise niemand), sondern in der Veränderung des Denkens und Fühlens. In der langsamen Revolution der kleinen Schritte, in der stillen Revolte der Bewegung gegen die Erstarrung.

Der Eurasis-1 ist eine Utopie mit Wegweisern – eine konkrete Abstraktion, die ihre Wirksamkeit gerade aus der Spannung zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit bezieht. Als skulpturale Vision kontinentalen Ausmaßes verweist er auf das, was Kunst jenseits von Galerien und Museen leisten kann: die Erschaffung neuer Räume des Möglichen durch die simple, revolutionäre Geste des Gehens.


Anmerkung: Das Konzept wurde 2025 in metalabor neun erstmals veröffentlicht.