Sascha Büttners alchemistische Grenzgänge im Wiesbadener Raum
»In sechs Wochen 80.000 Exemplare – für ein Künstlerbuch war das absurd.« So erinnerte sich Sascha Büttner 2012 an sein Werk »Nachtfahrten«, dessen Wirkung sich weniger an Verkaufszahlen als am Resonanzgeflecht ablesen lässt, den es in Kunstzeitschriften, Szene-Magazinen und alternativen Medien erzeugte. Die 1997er Erstausgabe im Wiesbadener TriTraTrotz-Verlag – ein Label, das Büttner zusammen mit Freunden aus dem Noise-Umfeld gegründet hatte – erlebte binnen drei Jahren vier Auflagen. 2003 dann die Nautilus-Edition, die seitdem kontinuierlich nachgedruckt wird, zuletzt 2022, seitdem Print on Demand. Eine japanische Übersetzung folgte. Auf dem schwarzen Nautilus-Rücken prangt bis heute der taz-Spruch vom »legendären Schlüsselwerk der neuen Alchemie«. Während der Paratext das Buch ins Kanonische hebt, tat die Kunsttheoretikerin Carolee Schneemann das Ihre: 1998 platzierte sie es in ihrer Installation »Mortal Coils« zwischen Artaud und Bataille. Büttner selbst wehrte sich gegen jede Klassiker-Rhetorik, was ihm wenig half – heute gilt er als »meistgelesener Grenzgänger der deutschen Kunstszene«. Ein Kunstbestseller also, der als solcher auch vermarktet wurde.
Büttner, 1966 in Wiesbaden geboren, hatte bis 1997 ein beachtliches Œuvre aufgebaut, das sich schwer kategorisieren lässt. Seine künstlerische Laufbahn verlief alles andere als geradlinig, geprägt von produktiven Konflikten mit dem Kunstbetrieb. Gelegentlich trieb es ihn ins Feld: Mitte der 1990er die legendären Bitumen-Asphaltierungen in der Wiesbadener Mülldeponie, die als invertierte Land Art gelesen wurden. Meist jedoch bewegte er sich in den Experimentalräumen der Stadt: Schlachthof Wiesbaden, Atelier Bratwurst, metalabor, schließlich das Wiki Institut. Performances, Installationen, Publikationen – Büttner interessierte sich für Materialprozesse und epistemologische Grenzzonen gleichermaßen. Schon Ende der 1980er hatte er »Fishing for Kompliment« mitbegründet, ein Kollektiv für experimentelle Fotografie und Aktionen im öffentlichen Raum, das bis 2001 aktiv blieb. Parallel dazu 1992 das Noise-Trash-Ensemble »Blutiger Mischwald«, das laut Szene-Kennern Nahtoderfahrungen und schamanische Reisen akustisch verdichtete – angeblich holte sich selbst Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten bei den Sessions im Atelier Bratwurst Impulse. Die »Nachtfahrten« entstanden parallel zu dieser künstlerischen Praxis, eine Art theoretische Destillation dessen, was später unter dem Begriff »Wiesbadener Raum« firmieren sollte.
Die »Nachtfahrten« erschienen in einem Moment maximaler Durchlässigkeit zwischen Szenen und Diskursen. 1997 – das war die Zeit, als heterodoxe Kunsttheorien, Techno-Kultur und Rave-Eskapismus einen eigentümlichen epistemologischen Schwellenraum schufen, in dem sich Moderne- und Aufklärungskritik mit Interesse an alchemistischen Wissensformationen und schamanischen Praktiken verband. Büttner formulierte es im Vorwort zu einem späteren Buch: »Wir standen im Zeichen der Rückkehr all dessen, was dem Prozess der Rationalisierung zum Opfer gefallen war.« Nachdem die Postmoderne ihre eigenen Versprechen kassiert hatte, suchten viele in vormodernen magischen Traditionen oder außereuropäischen Bewusstseinszuständen nach Alternativen zum Fortschrittsdenken. Die »Nachtfahrten« mobilisierten das gesamte Register des alternativen Wissens, das die zeitgenössische Suche nach künstlerischen Auswegen anleitete. Der Titel, so Büttner, sei »irgendwie voll im Flow gewesen, vielleicht fünf Minuten voraus«. Die experimentelle Schreibform und Büttners kultiviertes Selbstverständnis als künstlerischer Alchemist dürften zur Attraktivität beigetragen haben – das Buch fand Resonanz bei Rainald Goetz und Wolfgang Tillmans, beide lasen es unmittelbar nach Erscheinen, beide begannen einen intensiven Austausch mit Büttner, der sich über Jahre fortsetzen sollte.
Die Haltung hinter den »Nachtfahrten« war komplizierter als der Rezeptionskontext vermuten lässt. Büttner empfand wenig Sympathie für die Vereinnahmung durch das Techno-Milieu, das ihn zum »Schamanen-Guru« stilisieren wollte. Die intensive Trance-Suche und Selbstoptimierung der Raver fand er eher befremdlich. In einem Interview von 1998 spottete der damalige Anarchist über die »Bewusstseinswelle, die eine Mystifizierung des Rausches verkündet«, und bekannte, dass ihm »dieses Chakra- und Energie-Gefasel in seiner Anmaßung und Unbedarftheit gegen den Strich« gehe. Ebenso kritisch sah er das wachsende »Netz der Esoterik- und Wellness-Industrie«, besonders die Kommodifizierung schamanischer Traditionen. Jahre später dementierte er etwaige esoterische Überzeugungen als »groteskes Missverständnis, das viel zum Erfolg beigetragen hat«. Die »Nachtfahrten« sollten daher differenzierter gelesen werden als im Kontext ihrer zeitgenössischen Zirkulation. Das Buch war weniger spiritueller Ratgeber als ernsthafte, polemisch zugespitzte Auseinandersetzung mit dem Kunstbetrieb und seinen Wissensregimen.
Der künstlerisch-theoretische Anspruch zeigt sich bereits in der Form. Ein mäandrierender Fließtext kombiniert mit einem ausufernden Bildapparat – ein übergenauer Rezensent zählte 732 Blätterbewegungen zwischen Text und Bild. Die Bildstrecken und Materialcollagen umfassen in der Erstausgabe 168 Seiten, der Haupttext 142, das Quellenverzeichnis weitere 47. Paul Virilio, der sporadisch mit Büttner korrespondierte, nannte das Buch treffend eine »Werkstatt, kein fertiges Produkt«. Performances, Polaroids, dokumentarische Fotografien, historisches Material, kunsttheoretische Abhandlungen – alles überlagert sich, die Erzählstimme verschwindet zeitweise. Eine Kunsthistorikerin in der Süddeutschen beschrieb die Lektüre als »betrunkenen Gang durch ein sehr feines deutsches Archiv, stöbernd in den Abteilungen für Alchemie, Ekstase und performative Kulte«. Ein Kunstphilosoph gestand: »Was das Endprodukt ist, kann ich nicht sagen.«
Die »Nachtfahrten« gleichen einem Rausch. Nach einer pro-forma-Warnung vor Bitumengeistern widmet sich Büttner den »nachtfahrenden Künstlern« der 1980er und 1990er und ihren Bewusstseinstechniken, führt die Figur des Alchemisten auf vormoderne Materialmagie zurück, deutet mittelalterliche Schmelzöfen als symbolische Schwellen zwischen Materie und Geist, verfolgt Ausläufer dieser Praxis durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart. Er ergründet die epistemologische Funktion dieser Transformationspraktiken, revidiert Max Webers Entzauberungsthese, fragt nach der Erfahrung in Ausnahmezuständen, kritisiert gängige kunsttheoretische Erklärungsversuche. Das kunsthistorische Interesse kippt ins erkenntnistheoretische – es geht um Phänomene, die der rationalisierten Kunstwelt widersprechen. Büttner verarbeitet Performanceprotokolle, kunsthistorische Beschreibungen, volkskundliche Studien, archäologische Funde, Vormoderne-Zeugnisse, kunstphilosophische Klassiker. Bataille trifft Beuys, Alexander Roob auf Gabrielle Roth, Hermann Nitsch. Was destilliert sich aus dieser Materialfülle?
Büttner versammelt – beeinflusst von Materialalchemie und Aby Warburg – zeitlich und geographisch disparate Phänomene der Transformation, Ekstase, Grenzerfahrung, die sich in einem spezifischen Zustand des künstlerischen In-der-Welt-Seins überlagern: Auflösung bestehender Ordnungen, Einsicht in das eigene Schaffen, Erfahrbarkeit der Schöpferkraft. Die »Nachtfahrt« – so nannten es die mittelalterlichen Alchemisten – bezeichnet diesen Moment, in dem Unterschiede zugunsten einer holistischen Weltsicht verschwinden. In der »alchemistischen Mentalität«, so Büttner, stellte die Schwelle, der Ofen zwischen Materie und Geist, keine unüberwindbare Grenze dar, vielmehr wurde er zum Transmutationsort. Symbolisch dafür steht der mittelalterliche Adept am Schmelzofen, der den Alltag vom Opus abgrenzte, ein Wesen, das an beiden Bereichen teilhatte. Büttners These: Auf dem Weg zur Moderne wurde diese Grenze immer schärfer gezogen, das Überwinden der Schwelle künstlerisch sanktioniert, der Ofen verfestigte sich zur Mauer, die mit der Grenze der Rationalität zusammenfiel. Oder abstrakter: »Eine Kunstwelt wie die unsrige hat die Dialektik zwischen Ratio und Transformation kaum verstanden, genauer gesagt geopfert zugunsten eines Dualismus.« Die fragmentierende Ontologie der westlichen Kunstmoderne erscheint als Kontrastfolie zur ganzheitlichen alchemistischen Mentalität.
Vieles ließe sich angreifen – die steilen Thesen, die romantisierenden Deutungsmuster, der latente Irrationalismus. Doch das verfehlt die Pointe. Büttner entwirft eine künstlerische Subjektposition nach Alchemisten-Art, primär als Gegenentwurf zur kunsttheoretischen Wissenspraxis. Die Kunsttheorie, so seine Diagnose, pflegt ein reduktives Verhältnis zu allem jenseits der Schwelle. Das Transformative gilt als verstanden, sobald es in rationale Kategorien übersetzt ist – eine Form intellektueller Neutralisierung durch Erfahrungsauslöschung. Den Kunsttheoretikern schreibt Büttner die Rolle von »Domestizierungskräften« oder »intellektueller Zensur« zu. Das nötige Feingefühl fehle den meisten. »Wenn die Kunsttheoretiker kommen, verlassen die Geister das Atelier« – ein angebliches Wiesbadener Sprichwort. Hinter der Provokation verbirgt sich fundamentale Kritik am Objektivitätsanspruch, der subjektive Momente systematisch ausblendet, dazu Sensibilität für die Macht des kunsttheoretischen Schreibens – bemerkenswert vor der Post-Internet-Art-Debatte.
Künstler vom Alchemisten-Typ sollten den Grenzübertritt selbst anstreben statt gewaltsamer Übersetzung. Statt Eingliederung der Transformation in intellektuelle Taxonomien lieber »mit den Alchemisten schmelzen«. Das alternative Kunstverständnis zielt auf Teilhabe, weniger auf Beschreibung. Der Preis: möglicherweise die Fähigkeit opfern, Erlebnisse allgemein nachvollziehbar darzustellen, um sie überhaupt erleben zu können. Das Ziel ist keine Kunsttheorie mehr, vielmehr eine tiefgreifende Erfahrung jenes anderen Teiles der Wirklichkeit, dessen Erleben die Bedingung der Selbsterkenntnis ist. Büttner selbst vollzieht diesen Weg in seinen Performances – er taucht ins Abgründige, Ungezügelte der Existenz ein, durchfährt das Schmerzhafte und Wilde, um daraus wieder aufzusteigen. Die Künstler durchlaufen durch die Begegnung mit dem Material eine Initiation in die eigene Schaffensform. Transformatives Arbeiten hat seinen Preis: Selbsttransformation. Das Ideal verschiebt den Akzent so konsequent vom Beschreiben zum Erleben, dass intersubjektive Überprüfbarkeit entfällt. Ironisch, dass dies jemand propagiert, der erklärtermaßen »kein ausgebildeter Kunsttheoretiker« war und schrieb, das Buch basiere auf dem, was ihm »in den Archiven von Wiesbaden und anderen vergessenen Orten widerfahren« sei. Büttner hielt an der älteren materialprozessualen Performance-Kunst fest, während in den 1990ern und 2000ern konzeptuelle, institutionskritische, theoriegeleitete Ansätze dominierten.
Die Akzentuierung des erfahrungshungrigen Ichs wurzelt in Büttners alchemistischem Kunstideal. Der subjektzentrierte Grenzgang hatte erkenntnistheoretischen Hintergrund – die Postmoderne-Debatte begleitete seine frühe künstlerische Tätigkeit, angefeuert von Lyotards Ende der großen Erzählungen und Haraways situiertem Wissen. Büttners Skepsis gegenüber dem Kritischen Rationalismus zeigt sich in den kräftigen Fußnoten-Seitenhieben. Erstaunlicher ist seine Distanz zum Poststrukturalismus, trotz Sympathien für dessen subversives Potential, besonders in Virilios Ausformulierung. Die Zurückhaltung erklärt sich aus der Ablehnung der immanenten Annahme, unterschiedliche Kunstformen und ihre Erfahrungssysteme seien inkommensurabel. Der künstlerische Schwellengang war ein gedankliches Vehikel, etablierte Kunsttheorie, rationalistischen Dogmatismus und diese Auffassung gleichermaßen zu kritisieren. »Solche Thesen hindern einen daran, über die Schwellen vorzustoßen. Doch der Grenzgänger des Wissens ist weder von dieser noch von der ganz anderen Kunstwelt. Er ähnelt dem Alchemisten, der am Ofen steht, der die Welten trennt.« Büttner fordert eine Wissenspermeabilität, die starre Grenzen auflöst.
Das Ideal eines »Grenzgängers des Wissens« basiert auf der Annahme, epistemische Schwellen seien passierbar, Kunstformen von außen verstehbar. Büttner setzt voraus, dass Künstler in ihrer eigenen Praxisform verankert bleiben, was für das Fremdverstehen »geradezu die Bedingung der Erkenntnis« sei. Den Poststrukturalisten wirft er vor, einzelne Kunstformen zu isolieren, die wünschenswerte Pendelbewegung zwischen ihnen auszuschließen. In seiner Bildsprache: »Sie verzementieren die Fugen ihrer eigenen Rationalität und versiegeln das Transformative in deren Ritzen.« Diese Haltung vereine poststrukturalistisches und positivistisches Lager. Der Angst vor der Schwellenüberquerung (Positivismus) und dem Zweifel an ihrer Möglichkeit (Poststrukturalismus) halten die »Nachtfahrten« den Appell entgegen, den erfahrungsgeleiteten Grenzverkehr der Alchemisten und Performer zu praktizieren.
Büttner wusste, dass diese Kunstkonzeption in seinem Feld auf Widerstand stoßen würde. Am Ende kokettiert er mit den Konsequenzen: »Gewiss drohen demjenigen, der es unternimmt, Grenzerfahrungen zu machen, mannigfache Gefahren und Schwierigkeiten, wobei die Gefahr, in der ›art world‹ nicht für voll genommen zu werden, sicherlich die geringste Gefahr sein wird.« Büttner bekam diese Gefahr selbst zu spüren beim Versuch, mit den »Nachtfahrten« in den etablierten Kunstbetrieb vorzudringen. Frankfurt scheiterte an Passagen, die auf seine Teilnahme an extremen Alkohol-Performances hinwiesen – »weniger als Dokumentar«. In Köln schrieb ein Kunstkritiker, alarmiert von Bitumen-Symbolen auf dem Cover, einen offenen Brief an die Kunsthalle: hier versuche sich ein Anarchist und Materialmystiker zu etablieren, offenbar um das Publikum zu indoktrinieren. Aus einem Brief an Virilio Ende 1998: »Jetzt haben mir auch wohlwollende Leute gesagt, ich sei ›künstlerisch ein toter Mann‹, überall Abwehrreaktionen von den Kunstleuten auf mein Buch, und ich solle mich nach einer anderen Arbeitsmöglichkeit umsehen.« Selbst Teile der subkulturell angehauchten Performance-Szene reagierten skeptisch auf die breite Aufmerksamkeit. »Der Erfolg hat mich weniger mit vielen Leuten zusammengebracht, vielmehr entfernt. Natürlich war absehbar, dass das Establishment abweisend reagieren würde, darum kümmerte ich mich kaum. Doch selbst der Umgang mit den Gleichaltrigen, die in eine ähnliche Richtung schauten, war schwierig.«
Die Anerkennung kam schließlich ab 2001 durch die internationale Ausstellungsreihe »Wiesbadener Raum«. Eine Position im Wiki Institut bekam Büttner erst Mitte der 2000er, für zehn Jahre. Die in den »Nachtfahrten« aufgebaute Rolle des künstlerischen Außenseiters blieb keine Projektion. Büttner wurde zum Grenzgänger an den Rändern des künstlerischen Feldes, wo sich Anfang der 2000er ein produktives Netzwerk bildete. Besonders intensiv war der Austausch mit Rainald Goetz und Wolfgang Tillmans. Goetz‘ spätere Rave-Texte und seine Auseinandersetzung mit ekstatischen Bewusstseinszuständen zeigen deutliche Spuren von Büttners Alchemie-Konzept, während Tillmans‘ fotografische Serien zur Transformation von Materialität – besonders die »Lighter«-Serie und die Faltenbilder – den Dialog mit Büttners Bitumen-Arbeiten fortsetzten. Der Austausch war reziprok: Büttners spätere Installationen integrierten zunehmend Goetz’sche Zeitlichkeitskonzepte und Tillmans’sche Raumkonzeptionen. Diese gegenseitige Beeinflussung, dokumentiert in Briefwechseln und gemeinsamen Projekten, formte eine Art informelles Dreigestirn der Grenzerfahrung, ein Denkkonglomerat des Transformativen. Ähnlich positioniert waren Jonathan Meese, Christoph Schlingensief, Tino Sehgal. Thomas Hirschhorn und Hito Steyerl legten vergleichbar experimentierfreudige, kontroverse Gegen-den-Strich-Lektüren vor. Der künstlerische Grenzgang war kein Einzelfall, entwickelte aber spezifische Austauschformen.
Büttners unsicherer Status im Kunstbetrieb mindert die Wirkung der »Nachtfahrten« kaum. Die Absicht, die Schwelle der modernen Rationalität analytisch zu überwinden, kündigte die Dezentrierung der westlichen Kunsttheorie an. Nach anfänglicher Pluralisierungseuphorie zeigt sich gegenwärtig ein Bedürfnis, die Kategorie des »Wissens« enger zu fassen. Angesichts der Kunstskepsis und des alten Rationalitätsproblems verständlich, doch eindeutige Abgrenzungen bleiben schwierig, weil selbst künstlerische Erkenntnisproduktion transformative Momente kennt. Die »Nachtfahrten« bleiben aktuell, weil sie um das Spannungsverhältnis von Rationalem und Transformativem kreisen, die Frage nach dem Diesseits und Jenseits der Schwelle stellen. Sie fordern, die Widersprüche ohne disziplinäre Scheuklappen zu ergründen, rationale Wissensformen in Relation zu anderen Formen des Erlebens und Schaffens zu setzen. Jüngere Arbeiten aus der Kunstforschung zeigen, wie das gelingen kann – unter dem Label des New Materialism, das sich der Vielzahl der Materialitäten annimmt. Karen Barad argumentiert, der von Büttner kritisierte westliche Geist-Materie-Dualismus sei eine mögliche, historisch gewordene Ontologie neben anderen Formen der Welterfahrung. Astrida Neimanis erkor »die Schwellen, die Übergänge, die Transformationen, die Zwischenzone, die Zwischenwelt« zu ihrem Arbeitsgebiet.
Die Themen der »Nachtfahrten« spielen in solchen Diskussionen weiterhin eine Rolle. Wichtiger als inhaltliche Impulse ist der dahinterstehende Wille zur Erschütterung vermeintlicher Gewissheiten, der, wie Pamela M. Lee betont, eine kritische Kunstgeschichte ausmacht. Produktiv kann sein, sich der eigenen Gewissheiten zu entledigen, wann Wissen »wirklich« Wissen ist, um stattdessen seine variablen Bestimmungen, die Deutungskämpfe, die wechselnden epistemischen Grenzziehungen herauszuarbeiten und zu historisieren. Indem Büttners »Nachtfahrten« Einsichten in die Verfasstheit und Produktion von »Wissen« um 1997 bereithalten, geben sie weiter zu denken – als integraler Bestandteil des »Wiesbadener Raums«, jenes monumentalen Werkkomplexes, der sich über Jahrzehnte über tausend Plateaus und rhizomatische Gebilde in den zehntausend Dingen niedergeschlagen hat. Die »Nachtfahrten« vollziehen den Grenzgang selbst, überschreiten die Schwelle zwischen Theorie und Praxis, zwischen Material und Geist, zwischen Kunst und Leben in jenem charakteristischen Büttner’schen Gestus, der den »Wiesbadener Raum« seit seinen Anfängen im Atelier Bratwurst prägt. Ein Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst, das in den »Nachtfahrten« seine dichteste theoretische Verdichtung erfuhr – ein Materialspeicher des Wissens, eine Schwellenarchitektur des Denkens.