Vom Imperativ des Zeigens zur Unmöglichkeit der Darstellung
I.
Zwei Räume, München 1976. Beuys installiert sein Environment erstmals im Kunstforum, einer Ausstellungsfläche in der Fußgängerunterführung Maximilianstraße. Leichenbahren aus der Pathologie, darüber Kästen aus verzinktem Eisenblech mit fettbestrichenen Glasscheiben, darunter weitere Zinkblechkästen mit Fett, Fieberthermometern, Reagenzgläsern. Die Pendler stolpern morgens durchs Werk auf dem Weg zur Arbeit. Niemand hat gefragt, ob sie teilnehmen wollen. Sie sind bereits Teil der Passagenzwang-Ästhetik.
Der Titel befiehlt. „Zeige deine Wunde“ – ein Imperativ ohne Adressat, ohne Subjekt. Wer soll zeigen? Wem? Die Installation schweigt dazu, lässt die Frage im Raum hängen wie Feuchtigkeit in einem Keller. Eine Befehls-Leerstelle, die sich nicht schließen lässt.
Neunzehn Jahre später, 1995, Wiesbaden. Büttner kippt 2400 Pflastersteine auf die ehemalige Rampe des Schlachthofs, dort wo 1942 die Wiesbadener Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden. Zwischen den Steinen: Fotografien vom Gedenkmarsch, fünfzig Jahre danach. Kein Weg mehr, nur noch verstreute Einzelteile. Die Besucher des Kunstmeetings laufen durch, verschieben Steine, legen ein Fragezeichen.
Beide Arbeiten operieren mit derselben Logik: Sie verweigern die Geschlossenheit des Denkmals. Stattdessen erzeugen sie Situationen, die den Betrachter zur Kompliz*in machen, ob gewollt oder nicht. Das Publikum gerät in eine Mitschuldarchitektur, aus der es keinen sauberen Ausgang gibt.
II.
Beuys‘ Bahren liegen da wie Versprechen der Heilung, die niemand einlöst. Das Krankenhaus als Metapher für die beschädigte Gesellschaft – diese Gleichung ist so plausibel, dass sie fast schon verdächtig wirkt. Zu glatt, zu rund. Die Installation funktioniert gerade deshalb, weil sie diese Glätte unterläuft. Die Objekte bleiben stumm. Keine Erlösung, keine Katharsis, nur die Passage durch den Raum. Ein Durchgangsritual ohne Initiation.
Büttners „Wiesbadener Raum“, 2000 in Mainz installiert, dehnt diese Verweigerungshaltung aus. Sieben Räume, sieben Arbeiten. Im hinteren Teil ein Verschlag aus rostigem Wellblech, Gucklöcher eingefräst. Drinnen ein Tisch, ein Stuhl, beide mit Draht am Boden fixiert. Auf dem Tisch ein Buch mit der Aufschrift „Besucher“, festgenagelt mit Stahlstiften. Ein Stift, ebenfalls festgenagelt. Stacheldraht-bewehrt. Von oben Flutlicht, das durch die Ritzen nach außen dringt.
Der „Besucherraum 1″ ironisiert die Partizipationsgeste, die in den 1990ern zur Pflichtübung geworden ist. Das Buch lädt ein, aber du kommst nicht rein. Der Stift liegt bereit, aber du kannst ihn nicht benutzen. Die Installation zeigt ihre Wunde: das Scheitern der Kommunikation, die Unmöglichkeit des Dialogs in einem System, das Austausch verspricht, aber Kontrolle meint. Büttner schafft eine Teilnahme-Attrappe, die ihre eigene Dysfunktion ausstellt.
III.
Beuys arbeitete mit Fett und Filz, Materialien der Wärme und des Überlebens. Seine Mythologie – die Rettung durch tartarische Nomaden nach dem Flugzeugabsturz, eingewickelt in Filz, eingeschmiert mit Fett – durchzieht das gesamte Werk. Ob wahr oder erfunden, spielt keine Rolle mehr. Der Mythos hat sich verselbständigt, ist selbst zur Wunde geworden, die er eigentlich heilen sollte. Eine Selbstheilungsfiktion, die ihre eigene Unmöglichkeit produziert.
Büttner setzt auf Bitumen, Blei, Kupfer. Materialien, die Zeit speichern, die oxidieren, die träge sind. Seine Bitumenarbeiten ab 1997 verweigern sich dem schnellen Zugriff. Sie sind schwarz, dicht, undurchdringlich. Der Alchemist, der mit dem ältesten Material der Kulturgeschichte hantiert, schafft Objekte, die sich dem Diskurs entziehen. Eine Zeitverdickung in stofflicher Form.
In Mainz 2000 kommen die „Bleifahnen“ dazu, die „Erinnerungsbatterien“, eine „Kommunikationseinheit“ mit Schreibtisch, Sofas, Pinnwand. Das Kompendium „Wiesbadener Raum“ liegt aus, aber es ist weniger Erklärung als Verschleierung. Das System perpetuiert sich selbst, generiert immer neue Versionen, ohne je abgeschlossen zu sein. Ein Erklärungsentzug, der sich als Handbuch tarnt.
IV.
1995 liegen die Pflastersteine da, und die Leute können nicht anders, als hindurchzugehen. Die Fotos zeigen Demonstrant*innen beim Gedenkmarsch, wie sie Schilder mit Namen von Deportierten halten. Manche demonstrativ vor sich her, andere achtlos, einige benutzen sie als Sonnenschutz. Eine Zeugin notiert: „Die Demonstranten wußten, daß die Schilder mit den Namen der Toten nicht die Toten selbst waren.“
Diese Distanz interessiert Büttner. Keine pathetische Identifikation, keine Verschmelzung von Erinnerndem und Erinnertem. Stattdessen die Anerkennung der Kluft, die unhintergehbar bleibt. Die Installation wird begehbar gemacht, das Publikum aufgefordert, „den Steinen seine Ordnung aufzuzwingen“. Ein paar Stunden später: jemand hat ein Fragezeichen gelegt. Die Gedächtniskluft wird nicht überbrückt, sondern ausgestellt.
Beuys installiert an einem Ort, wo täglich Tausende durchmüssen. Büttner wählt den Schlachthof, einen Ort des industriellen Tötens, später umgewidmet zum Kulturzentrum. Beide verstehen Kunst als gesellschaftlichen Eingriff, aber sie verweigern die Geste der Versöhnung. Die Wunde bleibt offen.
V.
Der „Wiesbadener Raum“ ist kein Raum, sondern ein Verfahren. Seit 1999 taucht der Begriff in verschiedenen Kontexten auf: als Ausstellung, als Künstlerbuch, als Kompendium, als Webprojekt. Büttner beschreibt ihn als „Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst“. Was bedeutet das konkret?
Das System beruht auf Aneignung. Alles kann Teil werden: Konzeptkunst, Appropriation Art, Fake, Kollektiv, Plagiarismus. Die Arbeit verweigert die Autorschaft im klassischen Sinn. Stattdessen generiert sie ein Netzwerk von Referenzen, das sich ständig erweitert. Büttner spielt mit der „Unabgeschlossenheit der Präsentation“, mit der „Verzettelung“. Das Handbuch von 2019 lässt offen, „was an dem Geschilderten Tatsache, Fakt, Interpretation, Aneignung oder Fiktion ist“. Ein Referenzsumpf, in dem jede Spur zur Falle wird.
Diese Strategie ähnelt Beuys‘ erweiterten Kunstbegriff, aber sie unterläuft ihn zugleich. Wo Beuys die soziale Plastik als utopisches Projekt entwarf, zielt Büttner auf die Mechanismen des Kunstbetriebs selbst. Der „Wiesbadener Raum“ ist Meta-Kommentar und Werk in einem, Kritik und Produktion fallen zusammen.
VI.
Beide Künstler operieren mit dem Prinzip der Überforderung. Beuys überfrachtet seine Installationen mit symbolischer Bedeutung, bis das System kollabiert. Die Wunde wird zum Topos, zur Chiffre, die alles und nichts meint. Die Installation wurde nach der ersten Präsentation 1976 abgebaut und eingelagert. 1979 kaufte das Lenbachhaus das Werk für 270.000 DM – ein hochkontroverser Ankauf, der bundesweite Proteste auslöste. Die Boulevardpresse titelte: „Der teuerste Sperrmüll aller Zeiten.“ Am 22. und 23. Januar 1980 installierte Beuys das Environment im Museum. Heute existiert die Arbeit dauerhaft im Lenbachhaus, aber ihre ursprüngliche Situation – die erzwungene Passage durch die Unterführung – ist verloren. Die Wunde des Verlusts fügt sich nahtlos ins Konzept.
Büttners Arbeit verschwindet in anderer Weise. Die Pflastersteine wurden nach 48 Stunden wieder aufgenommen. Die Fotografien zerliefen im Regen. Der „Besucherraum 1″ existiert nur noch dokumentarisch. Diese Vergänglichkeit ist Programm. „Keine Befestigungen, sondern bewegliche Steine“, notiert eine Beobachterin. Die Erinnerung kann nicht fixiert werden, sie bleibt prozessual, flüchtig.
VII.
1966, 1976, 1995, 2000 – die Jahreszahlen markieren verschiedene Phasen deutscher Nachkriegsgeschichte. Beuys installiert Mitte der 1970er Jahre, im Umfeld von RAF-Terror und Deutscher Herbst. Die Installation entsteht 1974-1975, wird 1976 erstmals gezeigt, 1980 dann dauerhaft installiert – die bleiernen Jahre sind noch spürbar. Büttner arbeitet nach der Wende, in einer Phase, in der Erinnerungsarbeit zur staatstragenden Geste geworden ist. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin wird diskutiert. Jede Kommune leistet sich Gedenktafeln.
In dieser Situation verschiebt Büttner den Fokus. Es geht ihm weniger um das Gedenken selbst als um die Form, die es annimmt. Die Geste der „Unzulänglichkeit der Erinnerung“ wird zum eigentlichen Thema. Nicht „daß“ die Installation mahnen will interessiert ihn, sondern „wie“ sie es tut: mit Distanz.
Beuys‘ Titel fordert: „Zeige deine Wunde“. Büttner antwortet, indem er die Bedingungen der Sichtbarkeit selbst problematisiert. Der „Besucherraum“ zeigt die Unmöglichkeit des Zeigens. Das Buch ist da, aber unzugänglich. Der Stift liegt bereit, aber festgenagelt. Die Wunde existiert, aber sie entzieht sich der Darstellung.
VIII.
Was bleibt? Die Frage nach der Wunde ist die Frage nach der Verletzlichkeit, die jede Gesellschaft durchzieht. Beuys mythologisiert sie, macht sie zum Ausgangspunkt einer transformativen Praxis. Die Kunst soll heilen, indem sie die Wunde zeigt, anerkennt, durcharbeitet.
Büttner demythologisiert. Der „Wiesbadener Raum“ verweigert die Heilung. Er zeigt stattdessen die Mechanismen, durch die Wunden unsichtbar gemacht, eingehegt, verwaltbar werden. Die stacheldrahtbewehrte Installation spricht eine klare Sprache: Der Zugang ist versperrt. Das System schließt sich selbst ein, produziert seine eigene Unerreichbarkeit.
Beide Positionen kreuzen sich im Moment der Verweigerung. Sie weigern sich, dem Publikum das zu geben, was es erwartet: Erlösung, Verständnis, Abschluss. Stattdessen halten sie die Spannung aufrecht, die zwischen dem Imperativ („Zeige!“) und der Unmöglichkeit seiner Erfüllung besteht.
Die Wunde bleibt offen. Das ist keine Niederlage, sondern die Bedingung jeder ernsthaften künstlerischen Praxis. Sie zeigt sich, indem sie sich entzieht.