Sascha Büttner: Warten. Erscheint im Frühjahr 2026
Kaum ein Fotograf hat sich mit so vielen Orten beschäftigt wie Büttner: Hamburg, Stockholm, Kyoto, Barcelona, Berlin und viele andere. Vor allem aber ist Büttner berühmt für seinen speziellen Blick und seine Arbeitsmethode, gehörte er doch zu den ersten Fotografen, die sich mit der Kultur des Wartens und der alltäglichen Muße befassten. Und mittels der von ihm praktizierten phänomenologischen Beobachtung sucht er große existentielle Zusammenhänge aus der Betrachtung kleiner Details zu verstehen – ein Café-Besuch wird zur Meditation über Zeit, Raum und menschliches Dasein.
Warten, eine Ausgliederung aus dem 2024 erschienenen Roman Büttner, entfaltet diese künstlerische Praxis als literarisches Experiment. Der für Frühjahr 2026 angekündigte Text lässt Büttner sein künstlerisches Leben Revue passieren – er zeigt, wie er zu seinen Themen und seiner Betrachtungsweise kam und diese über Jahrzehnte weiterentwickelte. Seine fotografische Praxis wird zu einer existentiellen Selbstbefragung: Am Beispiel eines dreistündigen Café-Aufenthalts erzählt der Text von den Teezeremonien in Kyoto, von der gescheiterten Ehe mit Margarete und von den Jahren der rastlosen Wanderschaft. Und er fragt, ob es die eigene Biografie als ewiger Suchender war, die ihn immer wieder das Warten, die Langsamkeit und die Qualität des bloßen Seins zum Gegenstand seiner Arbeit wählen ließ.
Die Methode des verschärften Sehens
Büttners Vorgehensweise erinnert an die Mikrohistorie Ginzburgs, übertragen in den Bereich visueller und existentieller Erfahrung. Wo der Historiker aus dem Einzelschicksal des Müllers Menocchio die Mentalitätsgeschichte einer ganzen Epoche rekonstruiert, destilliert der Fotograf aus der präzisen Beobachtungs-Choreographie eines einzigen Vormittags im Café die fundamentalen Strukturen menschlicher Zeitwahrnehmung. Die „geometrische Präzision“ seiner Beschreibungen – „Der Tassenhenkel bildet einen exakten Halbkreis von 4,2 Zentimetern Durchmesser“ – verweist auf Robbe-Grillets objektive Beschreibungskunst, während die philosophischen Einschübe an Sartre und Heidegger gemahnen.
Doch Büttner geht weiter. Seine Arbeit verwandelt Beobachtung in Performanz. Das Warten selbst wird zur künstlerischen Geste, zum „aktiven Nichtstun“, wie er es nennt. In einer Kultur der permanenten Beschleunigung praktiziert Büttner einen „stillen Widerstand durch Langsamkeit“, eine „Revolution der Achtsamkeit“, die politisch wie poetisch operiert. Sein Café-Aufenthalt dauert drei Stunden, doch die phänomenologische Verdichtung dieser Zeit erzeugt eine Intensität, die lineare Chronologie auflöst: „Zeit als Substanz, nicht als Verlauf.“
Nouveau Roman als Lebensform
Die Struktur von Warten folgt konsequent den Prinzipien des Nouveau Roman. Wie bei Claude Simon überlagern sich verschiedene Zeitebenen ohne Ankündigung; wie bei Nathalie Sarraute werden psychische Zustände durch Mikro-Gesten sichtbar gemacht; wie bei Michel Butor löst sich die Chronologie zugunsten einer „temporalen Schichtung“ auf. Während diese literarischen Techniken bei den französischen Autoren der 1950er Jahre primär ästhetische Programme waren, werden sie bei Büttner zur gelebten Praxis, zur existentiellen Notwendigkeit.
Seine Sprache oszilliert zwischen extremer Reduktion („Büttner sitzt. Die Tasse ist leer. Ein Löffel liegt.“) und ausufernden Bandwurmsatz-Konstruktionen von mehreren hundert Wörtern, in denen sich Gegenwart, Erinnerung und philosophische Reflexion unentwirrbar verschlingen. Diese formale Ambivalenz spiegelt die zentrale Spannung seines Werks: zwischen asketischer Konzentration und barocker Fülle, zwischen minimalistischer Beschränkung und maximalistischer Aufladung des Details.
Das Café als Heterotopie
Büttners Café funktioniert als „Heterotopie“ im Foucault’schen Sinne – ein Raum, der „außerhalb der normalen Ordnung“ existiert und eigene Gesetze kennt. Hier wird „Langsamkeit erlaubt“, „Verweilen erwünscht“, „Sein genug“. Das Café etabliert sich als „metaphysischer Raum“, als „Mußeraum“, als „Gravitationszentrum“ einer alternativen Temporalität.
Die anderen Café-Gäste – der Zeitungsleser, die Laptop-Frau, das verliebte Paar, der Fenster-Starrer – werden zu „Archetypen“ einer urbanen Anthropologie. Büttner beschreibt sie mit der Präzision eines Ethnografen und der Empathie eines Humanisten, ohne je in psychologisierende Deutung zu verfallen. Seine „Kategorisierung der Wartenden“ verbindet Soziologie mit Poesie, Phänomenologie mit Meditation.
Zeit als künstlerisches Material
Das eigentliche Medium von Büttners Arbeit bleibt die Zeit selbst. Er praktiziert eine „Zeitkunst“, die Zeit formt und verdichtet, statt sie abzubilden oder darzustellen. Seine dreistündige Performance im Café wird zur „Skulptur aus Zeit“, zum „Zeitkörper“, der sich der kapitalistischen Verwertungslogik entzieht.
Diese radikale Zeitpolitik hat Vorläufer: Warhols stundenlange Filme, Duchamps jahrzehntelange Schachpartien, On Kawaras Datumsbilder. Büttners Zeitkunst operiert subtiler, unauffälliger, demokratischer. Sie findet nicht im White Cube statt – sie geschieht im Alltag. Sie braucht keine institutionelle Legitimation, lediglich einen Stuhl, einen Tisch, eine Tasse Tee.
Die Ethik der Muße
Zentral für Warten bleibt der Begriff der Muße – verstanden als „existentielle Kategorie“ und „philosophische Praxis“, fernab von Faulheit oder Zeitvertreib. In einer Gesellschaft, die „jede Minute produktiv“ sehen will und „jede Handlung zielgerichtet“, praktiziert Büttner eine „Muße-Zeit“, die „dehnbar, subjektiv, qualitativ statt quantitativ“ ist.
Diese Position wirkt hochpolitisch. Büttners „Widerstand durch Langsamkeit“ zielt auf die Kernstrukturen spätkapitalistischer Zeitökonomie. Wo diese Zeit in immer kleinere, verwertbare Einheiten zerlegt, praktiziert Büttner die „Substanzialisierung“ der Zeit, ihre Rückverwandlung in eine „dichte, gesättigte, bedeutungsvolle“ Erfahrung.
Dabei bleibt er sich der Privilegiertheit seiner Position bewusst. Mehrfach reflektiert er, dass „Muße als Luxus“ nur möglich ist „für die, die sich Zeit leisten können“. Statt sich in Schuldgefühlen zu verlieren, formuliert er daraus einen ethischen Imperativ: Wer Zeit hat, soll sie würdigen, vertiefen, verschenken – durch achtsames Verweilen, durch bewusstes Sein.
Zirkuläre Form und offenes Ende
Warten endet, wie es begann – mit Büttner vor der Glastür. Diese scheinbare Kreisform entwickelt sich zur „Spirale“, zur „Hegelsche Dialektik im Miniatur-Format“: These (Ankunft), Antithese (Verweilen), Synthese (transformierte Ankunft). Der letzte Satz kehrt zum ersten zurück, „angereichert durch alles Dazwischenliegende“.
Zugleich verweigert der Text jede traditionelle Auflösung. Die Geschichte endet mit einem „offenen Ende ohne Auflösung“, ohne Aufbruch. Büttner sitzt noch immer, wartet noch immer, ist noch immer. Ob er gehen wird, bleibt „offen, unbeantwortet, unbeantwortbar“. Diese radikale Offenheit respektiert die „Unabgeschlossenheit des Lebens“ und überträgt die Verantwortung des Endens an die Lesenden.
Summe eines Werks
Warten lässt sich als Summe von Büttners künstlerischer Arbeit lesen – als Ausgliederung aus dem umfassenderen Roman Büttner (2024) konzentriert der Text die fotografische Praxis auf einen einzigen, exemplarischen Moment. Er vereint alle Themenstränge seines Œuvres: die Fotografie des Alltäglichen, die Philosophie der Langsamkeit, die Ethik der Achtsamkeit, die Politik der Muße. Zugleich öffnet er neue Perspektiven auf die Beziehung zwischen Kunst und Leben, zwischen Beobachten und Sein, zwischen Form und Existenz.
In einer Zeit, die von „Zeitnot bei Langzeitarbeitslosigkeit“, von „Stress bei Langeweile“, von „Hektik bei Stillstand“ geprägt ist, bietet Büttners Arbeit eine Alternative: die Möglichkeit einer anderen Zeitlichkeit, einer anderen Aufmerksamkeit, eines anderen Lebens. Sein Mikroroman funktioniert als Anleitung wie als Manifest, als Meditation wie als Provokation – eine Einladung, das Warten als gewonnene Zeit zu verstehen, als „Warte-Trance“, als Zustand intensivierter Gegenwart.
„Das Warten geht weiter“, endet der Text, „Auch nach dem letzten Wort. Auch nach der letzten Zeile. Auch nach dem Ende. Büttner wartet. Das Café wartet. Die Zeit wartet. Alles wartet. Weiter. Immer weiter. Ohne Ende.“