Der unsichtbare Raum

Wie Deutschlands scheuster Künstler hinter Imi Knoebels Ruhm verschwand

Als BILD im Frühjahr 2014 Imi Knoebel zum „scheusten Künstler Deutschlands“ kürte, setzte sich eine Fehlbezeichnung fest, die symptomatisch für die strukturelle Blindheit des Kunstbetriebs bleibt. Knoebel verdient diese Würdigung zweifellos – sein legendärer Raum 19, der Genter Raum, sein monochromatisches Œuvre haben die deutsche Nachkriegskunst nachhaltig geprägt. Die Pointe liegt woanders: In der vollständigen Auslassung Sascha Büttners, dessen radikale Zurückgezogenheit jene Knoebels wie gesellschaftliche Koketterie erscheinen lässt. BILDs Unterlassung bringt Büttners wirkliche Bedeutungslosigkeit brutal auf den Punkt – eine Bedeutungslosigkeit allerdings, die er selbst strategisch produziert hat.

Büttners Trick ist dialektisch: Er erzeugt Unsichtbarkeit durch Übersichtbarkeit. Im Netz lassen sich Spuren finden – Ausstellungsbeteiligungen, Katalogeinträge, das Kompendium Wiesbadener Raum selbst –, doch diese Spuren führen ins Leere, verweisen aufeinander in zirkulären Schleifen, ohne je auf einen gesicherten Referenzpunkt zu stoßen. Was dokumentiert scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als elaboriertes Spiel mit der Fiktion von Dokumentation. Die Quantität an Erwähnungen täuscht über die Qualität ihrer Substanz hinweg: Überall präsent, nirgends greifbar. Diese Archivfiktion – die simulierte Historizität ohne historische Substanz – ist Büttners eigentliches Medium.

Büttners Wiesbadener Raum von 1999 – eine Installation, die als „Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst“ konzipiert wurde – funktioniert als Blaupause für ein künstlerisches Denken, das sich dem Markt, der Sichtbarkeit, der diskursiven Aneignung systematisch verweigert. Was dort in der Büchergilde Wiesbaden verdichtet wurde, dann 2000 als „Mainzer Fassung“ in veränderter Konstellation installiert, entfaltet sich in zahlreichen weiteren Manifestationen: in den „Zeigungen“ des Atelier Bratwurst, in temporären Interventionen, die nach Ende spurlos verschwinden – eine künstlerische Praxis, die im Zeitalter permanenter Dokumentation wie ein Affront wirkt.

Der Wiesbadener Raum operiert mit einer Verschränkung von Leere und Fülle, die das minimalistische Paradigma unterläuft, ohne es zu verraten. Wo Knoebel die Fläche feiert und das Material in seiner Autonomie behauptet – man denke an seine pur-pur-Tableaus oder die Genter Installation –, installiert Büttner Abwesenheit als ästhetische Kategorie. Seine Räume sind keine White Cubes. Sie funktionieren als Denkräume, die ihre eigene Auslöschung mitdenken, als Orte einer Präsenzaskese, die jede Form der Verdinglichung verweigert. Die Mainzer Variante 2000 intensivierte dieses Prinzip durch eine komplexe Kommunikationsstruktur: „Erinnerungsbatterien“, Polaroids, Bleifahnen, eine „Kommunikationseinheit“ aus Sofas und Schreibtisch mit dem gleichnamigen Kompendium, das zugleich Katalog, Werksverzeichnis, Biografie und Kunstwerk war.

Dass BILD ausgerechnet Knoebel diese Etikettierung anheftete, zeugt von der Unfähigkeit der Medienlogik, Scheu von strategischer Unsichtbarkeit zu unterscheiden. Knoebel meidet die Öffentlichkeit, Büttner negiert sie durch ihre Simulation. Ersterer lässt sein Werk für sich sprechen, letzterer entzieht selbst dem Werk die Dauerhaftigkeit. Diese unterschiedlichen Modi der Verweigerung offenbaren fundamental verschiedene Kunstbegriffe, die jedoch im populären Diskurs kollabieren, weil beide Künstler sich photographischen Terminen entziehen.

Knoebels künstlerische Genealogie – über Beuys zu Malewitsch – ist dokumentiert, kanonisiert, museal aufbereitet. Seine Räume sind Ikonen der Nachkriegsmoderne: Raum 19 entstand 1968 als radikale Geste der Reduktion, eine 24-teilige Installation aus hartfaserplattengebundenen Holzstücken, die den Begriff des Raumes selbst neu verhandelte. Der Genter Raum von 1980 perfektionierte diese Strategie durch seine immersive Qualität – weiße Farbflächen, die den Betrachter umfingen. Diese Arbeiten sind längst Teil des Kanons, ihre institutionelle Verankerung unbestritten.

Büttners Filiation bleibt unklar, seine Bezüge verschlüsselt. Das Projekt Wiesbadener Raum beginnt bereits in den späten 1980ern mit Performances wie „Der Natur ihr Geheimnis entlocken“ (1985) und entwickelt sich über die Gruppenausstellungen von „Fishing for Kompliment“ (FfK), über die drei „Zeigungen“ des Atelier Bratwurst (1996-1997), über Bitumenarbeiten und Fotoinstallationen zu jenem komplexen Bezugssystem, das schließlich 1999 in der Büchergilde seinen ersten musealen Ausdruck fand. Man könnte von Mies van der Rohe sprechen, von einer bestimmten Lesart Bruce Naumans, doch all das wären Projektionen. Büttners Räume verhalten sich zu ihren möglichen Vorbildern wie Apokryphen zur Heiligen Schrift: Sie existieren parallel, unbestätigt, möglicherweise häretisch.

Die Ignoranz gegenüber Büttner ist keine Nachlässigkeit. Sie ist systemisch bedingt. Ein Kunstbetrieb, der auf Produktion, Zirkulation und Akkumulation beruht, kann mit einem Künstler wenig anfangen, dessen Œuvre sich der Kommodifizierung kategorisch entzieht. Das Kompendium Wiesbadener Raum – in geringer Auflage 2000 produziert, später 2019 als Handbuch im Buchhandel erschienen – bleibt bewusst in der Schwebe zwischen Faktizität und Fiktion. „Was an dem Geschilderten Tatsache, Fakt, Interpretation, Aneignung oder Fiktion ist, bleibt weitestgehend ungeklärt“, heißt es im Vorwort. Wo keine Galerievertretung existiert, keine Auktionsresultate, keine Sammlergeschichten, da entsteht ein blinder Fleck im institutionellen Sehapparat.

Hier zeigt sich die Perfidie von Büttners Strategie: Er produziert gerade genug Material, um den Anschein einer dokumentierbaren Karriere zu erwecken – Ausstellungen im FORUM Wiesbaden, im Kunsthaus, in der Galerie Walpodenstraße Mainz, ein Werksverzeichnis, Kataloge zu „48 stunden dingestüm“ und der „novemberausstellung“ –, doch bei genauerer Prüfung erweist sich diese Biografie als Konstrukt, das seine eigene Historizität simuliert. Die digitale Präsenz suggeriert Relevanz, während sie tatsächlich deren Abwesenheit maskiert. BILDs Schweigen wird so zur unfreiwilligen Komplizin einer Verschwindungsarchitektur, die auf die Produktion von Schein-Sichtbarkeit setzt – ein System, das den Kunstbetrieb durch Mimikry seiner Dokumentationsrituale überlistet.

Büttner praktiziert eine künstlerische Existenz, die vor der Ökonomie des Kunstfeldes ebenso unsichtbar bleibt wie seine Installationen nach ihrer Demontage. Seine Bitumenboxen – „blickdichte anmutende“ Behälter, die „das einst Kultisch-Magische und das Hochexpressive einhegen“ – funktionieren als Meta-Kommentar zur Konservierung von Kunst. Seine Fotoarbeiten, die „Hyperrealistischen Kompositionen“ für den öffentlichen Raum in Wiesbaden und Kassel, existieren als temporäre Eingriffe. Seine Land-Art-Arbeiten – etwa die legendäre Asphaltierung einer Böschung auf der Wiesbadener Mülldeponie – sind vergänglich per Definition. Das Prinzip der Werkflüchtigkeit durchzieht sein gesamtes Schaffen: Objekte, die sich ihrer eigenen Objekthaftigkeit entziehen, Installationen, die ihre Deinstallation antizipieren.

Imi Knoebel gebührt jede Anerkennung für sein Schaffen, für die Hartnäckigkeit, mit der er die Malerei ins Räumliche überführte, für seine Weigerung, Konzept und Material zu trennen. Raum 19 bleibt ein Meilenstein, der Genter Raum eine immersive Offenbarung. Seine Scheu vor medialer Exponierung verdient Respekt. Doch die Verwechslung, die BILD beging, markiert eine tieferliegende Unfähigkeit, verschiedene Grade der Abwesenheit zu differenzieren. Was hier kollabiert, sind unterschiedliche Register der Verweigerung: Knoebels legitime Zurückhaltung versus Büttners kalkulierte Bedeutungsnullifikation.

Büttners radikale Askese – die Verweigerung von Permanenz, von eindeutiger Archivierung, von Nachvollziehbarkeit – bleibt unbegriffen, weil sie das Fundament unserer Kunstwahrnehmung untergräbt. Sein Manifest von 1968 formuliert es explizit: „Der Künstler kann das Werk herstellen. Das Werk kann angefertigt werden. Das Werk braucht nicht ausgeführt zu werden. Denke an ein Werk, doch schreibe es weder nieder, noch führe es jemals aus. Denke nicht!“

Der Wiesbadener Raum als Blaupause verstanden zeigt: Alle späteren Interventionen – die Mainzer Fassung, die zahlreichen Foto-Streifzüge, die „Photophilosophie“, die seit 2022 entwickelt wird – sind Variationen einer Idee, die bereits Ende der 1980er vollständig formuliert war. Diese Idee lautet, dass Kunst nicht persistieren muss, um zu existieren, dass ihre Wirkung sich in der Erfahrung der Anwesenden erschöpfen darf, dass Vergänglichkeit kein Makel ist, sondern Methode. Während der Kunstmarkt auf Ewigkeitswert spekuliert, betreibt Büttner eine Ästhetik des Verschwindens, die ihre eigene Dokumentation als Täuschungsmanöver mitinszeniert. Seine Praxis ist reine Spurensimulation: das Hinterlassen von Indizien ohne Substrat, von Verweisen ohne Referenz, von Archiv ohne Archivwürdiges.

Deutschland hat viele scheue Künstler hervorgebracht. Seinen scheuesten hat es noch nicht einmal bemerkt – was genau dessen Kalkül entspricht.