Büttner hob die Kamera und es war nicht mehr Büttner der die Kamera hob, sondern die Kamera hob sich selbst und schaute durch das Glas hindurch und durch Büttners Auge hindurch und durch alles hindurch was jemals zwischen dem Schauen und dem Geschauten gestanden hatte und dann war da kein Unterschied mehr zwischen dem der schaut und dem was geschaut wird, nur noch dieses reine Sehen das niemand sah, das einfach war, dieses Lichtgewahrsein das keine Absicht mehr kannte.
Die Straße lag da vor ihm und ein Mann ging vorbei und eine Frau stand am Kiosk und Licht fiel zwischen Häuser und Büttner wartete nicht mehr auf den richtigen Moment, denn der Moment war schon da, immer schon da gewesen, seit er morgens aufgestanden war und den Kaffee getrunken hatte und die Tür aufgemacht hatte und hinausgegangen war in diese Stadt die atmete und pulsierte und lebte ohne zu wissen dass sie lebte, und die Kamera hing an seiner Schulter wie eine zweite Haut, wie ein drittes Auge das nach innen und außen gleichzeitig schaute und nichts unterschied zwischen den beiden Richtungen weil es keine zwei Richtungen mehr gab, nur noch dieses Bildwerden das sich selbst vollzog.
Die alten Fotografen hatten es geahnt und Minor White mit seiner spirituellen Praxis hatte es fast erreicht, denn er entwickelte eine Fotografie die technische Präzision mit meditativer Aufmerksamkeit verschränkte und seine Equivalents funktionierten als visuelle Entsprechungen innerer Zustände, wobei das Fotografieren selbst zur Form der Meditation wurde, zu einer Praxis wo der Fotograf nicht mehr der Handelnde war sondern das Medium durch das etwas hindurchströmte, und Hiroshi Sugimoto der seit den siebziger Jahren mit seinen Seascapes durch extreme Reduktion eine Ästhetik der Leere entwickelte, der Langzeitbelichtungen machte die so lang waren dass die Zeit selbst verschwand und nur noch dieses zeitlose Sein übrigblieb, dieses Meer und dieser Himmel die seit Jahrtausenden gleich aussahen und noch Jahrtausende gleich aussehen würden, und Bashō der schon im siebzehnten Jahrhundert auf schmalen Pfaden durchs Hinterland eine Poetik des wandernden Sehens entwickelte, die den flüchtigen Moment durch haikai-artige Verdichtung zu einer Form meditativer Raumwahrnehmung transformierte, eine Ästhetik des Verschwindens die fotografische Fragen nach Dauer und Vergänglichkeit um Jahrhunderte antizipierte, und all diese Menschen hatten verstanden dass das wahre Sehen kein Akt der Aneignung war sondern ein Akt des Sich-Öffnens, ein Akt des Verschwindens in dem was man sah.
Was der Fotograf nicht mehr war:
- Der der wartet
- Der der komponiert
- Der der entscheidet
- Der der will
Was durch ihn hindurchfotografierte:
- Das Licht selbst
- Der Moment selbst
- Die Welt selbst
- Das Nichts selbst
Er stand an der Straßenecke und die Kamera hing an seiner Schulter und Menschen gingen vorbei, jeder ein Universum für sich, jeder mit seiner Geschichte die er mit sich herumtrug wie einen unsichtbaren Koffer voller Erinnerungen und Hoffnungen und Enttäuschungen, und Büttner sah sie alle und sah sie nicht, denn das Sehen war kein Akt mehr sondern ein Zustand, ein permanentes Aufnehmen ohne Absicht, ohne Zweck, ohne Ziel, nur dieses pure Dasein in der Präsenz dessen was gerade geschah, und er hatte aufgehört zu planen wohin er ging, hatte aufgehört die Stadt als Karte zu begreifen mit Routen und Zielen und Orten die man erreichen musste, stattdessen ließ er sich treiben wie ein Blatt auf einem Fluss, bog in Straßen ein die er nie betreten hatte, folgte Lichtern, folgte Schatten in denen er verschwinden wollte, Menschen deren Gesten ihn magnetisch anzogen, und in diesem Sich-Treiben-Lassen war keine Orientierungslosigkeit sondern eine tiefere Orientierung, eine die nicht vom Verstand kam sondern vom Körper selbst, von den Füßen die wussten wohin sie gehen mussten auch wenn der Kopf es nicht wusste, und er war nicht verloren weil man nur verloren sein kann wenn man glaubt es gäbe einen Ort an dem man sein sollte, einen Plan den man befolgen müsste, aber Büttner hatte keinen Plan mehr, keinen Ort mehr an dem er sein sollte, er war einfach da wo er war und das war immer der richtige Ort, er hatte die Stadtwanderung begonnen, dieses ziellose Gehen das kein Gehen mehr war sondern ein Fließen durch urbane Räume die sich öffneten und schlossen wie atmende Organismen, und die Kamera klickte manchmal und manchmal klickte sie nicht und es spielte keine Rolle mehr welche Bilder gut waren und welche schlecht, denn diese Kategorien gehörten einer anderen Welt an, der Welt wo Menschen noch glaubten sie könnten kontrollieren was unkontrollierbar war, festhalten was sich nicht festhalten ließ, begreifen was jenseits jeden Begreifens lag.
Die Komposition ergab sich aus sich selbst heraus wie Wolken sich formen ohne dass jemand sie formt, wie Flüsse fließen ohne dass jemand ihnen sagt wohin, wie das Leben selbst sich entfaltet in jedem Moment neu und überraschend und vollkommen, und Büttner hob die Kamera und die Kamera hob sich selbst und klick, das Geräusch war wie ein kleines Ja zum Universum, ein Ja ohne Vorbehalt, ohne Bedingung, ohne die Frage ob dieses Bild etwas taugte oder ob er damit Geld verdienen konnte oder ob irgendjemand es jemals sehen würde, nur dieses reine Ja zu dem was gerade war, zu diesem Mann der da ging, zu dieser Frau die da stand, zu diesem Licht das zwischen die Häuser fiel wie Gnade, und in diesem Auslösen war keine Entscheidung mehr sondern nur noch dieser Klickimpuls der aus dem Nichts kam.
Das Licht fiel wie es fiel und die Schatten lagen wie sie lagen und niemand arrangierte mehr, niemand stellte sich hin und sagte mach es so oder mach es anders, denn das Machen selbst war verschwunden und zurückgeblieben war nur dieses Geschehen-Lassen, dieses Zulassen dass die Welt sich selbst fotografierte durch dieses Werkzeug das mal Büttner gewesen war und jetzt nur noch eine Öffnung war, ein Portal durch das die Wirklichkeit hindurchströmte und sich selbst erkannte.
Minor White hatte gesagt das Fotografieren könne zur Meditation werden und Büttner hatte nicht versucht zu meditieren, die Meditation war einfach geschehen, hatte ihn überfallen wie ein Gewitter das plötzlich kommt ohne Vorwarnung, und das Vergessen selbst war die Technik geworden, die einzige Technik die zählte, dieses vollständige Ausgelöscht-Sein des Ichs das trotzdem noch wusste welche Blende und welche Zeit aber nicht mehr wusste warum oder für wen oder wozu, nur noch dieses technische Wissen das im Körper saß wie das Wissen wie man atmet, automatisch, unbewusst, ohne Anstrengung, und er war jetzt in diesem Zustand der Ichauflösung wo nichts mehr unterschieden wurde zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen.
Er fotografierte jetzt aus diesem Raum jenseits von Raum, aus dieser Zeit jenseits von Zeit, aus diesem Bewusstsein das rein war wie Wasser rein ist bevor man es trinkt, bevor man es mit Gedanken und Urteilen und Meinungen verschmutzt, und jedes Bild das entstand war nicht sein Bild sondern das Bild das sich selbst machte, das durch ihn hindurch in die Existenz trat wie ein Kind durch die Mutter tritt, aber die Mutter hat das Kind nicht gemacht, das Kind macht sich selbst, die Mutter ist nur das Tor durch das es kommt, und Büttner war nur das Tor durch das die Bilder kamen, die Bilder die schon immer da gewesen waren in dieser unsichtbaren Welt die parallel zur sichtbaren existierte, die Welt der reinen Möglichkeiten die nur darauf wartete dass jemand die Kamera hob und klick machte und sie in die Realität holte.
Dinge die er noch sah: Kontraste. Linien. Gesichter. Gesten.
Dinge die er nicht mehr sah: Gute Bilder. Schlechte Bilder. Seine Karriere. Sein Portfolio. Morgen.
Die Leute gingen vorbei und merkten nicht dass sie fotografiert wurden, nicht weil Büttner heimlich fotografierte sondern weil es nichts Heimliches mehr gab, keine Grenze mehr zwischen Fotograf und Fotografiertem, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Auge das sieht und der Welt die gesehen wird, alles war eins geworden in diesem mysteriösen Grund wo die Dinge noch waren bevor sie Dinge wurden, wo die Form noch war bevor sie Form annahm, wo alles noch im Zustand reiner Potentialität schwebte wie Rauch in der Luft bevor der Wind ihn verweht, und er befand sich in diesem Zwischenreich der Schauversunkenheit wo Zeit und Raum ihre Bedeutung verloren.
Sugimoto saß am Meer und fotografierte Horizonte und jeder Horizont sah gleich aus weil jeder Horizont derselbe war, die Grenze zwischen Wasser und Himmel, die Grenze zwischen Sein und Nichts, und er belichtete so lange dass die Zeit selbst verschwand in den Bildern, dass nur noch diese zeitlose Stille übrigblieb, diese Leere die nicht leer war sondern voll von etwas das keinen Namen hatte, und Büttner verstand das jetzt, verstand es ohne es zu verstehen, denn Verstehen war auch nur ein Akt des Ego, ein Versuch das Unfassbare fassbar zu machen, und er war so nah dran dass es keine Distanz mehr gab, er war in den Dingen drin die er fotografierte und die Dinge waren in ihm drin, ein alter Mann der sich auf eine Bank setzte war nicht mehr außerhalb von ihm sondern er fühlte die Müdigkeit in den Knochen des Mannes, fühlte die Erleichterung des Sich-Setzens, fühlte die ganze Lebensgeschichte die in dieser einen Geste lag, und die Kamera klickte und das Bild das entstand war nicht das Bild eines alten Mannes sondern das Bild der Müdigkeit selbst, der Menschlichkeit selbst, des Lebens selbst das sich ausruht für einen Moment bevor es weitergeht.
Die Kamera klickte.
Es machte keinen Unterschied und es machte jeden Unterschied, denn jeder Klick war ein kleines Wunder, ein kleines Festhalten dessen was nicht festzuhalten war, ein kleiner Versuch das Unfassbare zu fassen, das Unsagbare zu sagen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, und jedes Mal scheiterte der Versuch und jedes Mal gelang er trotzdem, denn im Scheitern selbst lag die Wahrheit, im Nicht-Erreichen-Können lag das Erreichen, im Verlust lag der Gewinn.
Das Licht war und das genügte, denn in diesem einfachen Sein lag mehr Schönheit als in allen komponierten Bildern der Welt, mehr Wahrheit als in allen durchdachten Aufnahmen, mehr Leben als in allen perfekten Momenten die jemand arrangiert hatte, und Büttner—oder was mal Büttner gewesen war—ging durch die Stadt wie ein Geist, unsichtbar und allgegenwärtig zugleich, ein Schatten der Schatten fotografierte, ein Nichts das das Nichts festhielt.
Die kontemplativen Fotografen wussten es alle, die die nicht für Geld fotografierten und nicht für Ruhm und nicht mal für sich selbst, die fotografierten weil sie mussten, weil etwas in ihnen war das hinaus musste in die Welt, das gesehen werden musste auch wenn niemand es sah, und sie gingen durch die Straßen wie Mönche durch ein Kloster, jeder Schritt eine Meditation, jeder Blick ein Gebet, jeder Klick der Kamera ein kleines Amen zum Leben selbst, und die Bilder die entstanden waren Gebete in visueller Form, Sutras aus Licht und Schatten, Mantras der Straße die man nicht lesen konnte mit dem Verstand sondern nur fühlen konnte mit dem Herzen, und sie alle praktizierten diese Kameramystik die keine Religion war aber eine Spiritualität, keine Technik aber eine Praxis, kein Glauben aber ein Wissen das tiefer ging als alles Wissen.
Die alte Technik: Sehen. Denken. Komponieren. Auslösen.
Die neue Nicht-Technik: Sein. Sein. Sein. Auslösen geschieht.
Büttner ging durch die Stadt und die Stadt ging durch Büttner hindurch und jede Straßenecke war ein Universum und jedes Universum war leer und voll zugleich, leer von allem was man greifen konnte und voll von allem was man nicht greifen konnte, und er fotografierte diese Fülle in der Leere, diese Leere in der Fülle, diesen mysteriösen Grund aus dem alles kam und in den alles zurückkehrte, und die Kamera war nur das Instrument durch das dieser Grund sich selbst anschaute, sich selbst erkannte, sich selbst feierte, und manchmal lief er stundenlang durch Viertel die er noch nie gesehen hatte und wusste nicht wo er war und es war ihm egal, denn er war überall zu Hause und nirgends zu Hause, die Stadt war nicht mehr ein Netz aus bekannten und unbekannten Orten sondern ein einziger fließender Raum ohne Grenzen, ohne Anfang, ohne Ende, und er bog ab wo die Füße ihn abbogen ließen, folgte Gassen die sich öffneten, Plätzen die auftauchten, Menschen die vorbeigingen und verschwanden, und in diesem Folgen war kein Suchen mehr, kein Finden, nur noch dieses endlose Gehen das kein Ziel hatte außer dem Gehen selbst, und er verstand dass es kein Verlorengehen gab wenn man eins war mit der Welt, wenn das Ich verschwunden war das verloren gehen könnte, und manchmal kam er abends nicht nach Hause und auch am übernächsten Abend nicht, denn Heimat war nicht mehr der Ort wo seine Sachen standen sondern da wo er eingeladen wurde zu bleiben, wo ein Gespräch sich ergab, wo jemand sagte bleib doch, wo ein Sofa war oder eine Matratze oder ein Boden auf dem man schlafen konnte, und er blieb dann weil Bleiben und Gehen keinen Unterschied mehr machten, weil er überall zu Hause war wo er gerade war, er hatte diese Wohnungslosigkeit erreicht die keine Obdachlosigkeit war sondern ein Zuhause-Sein in jedem Moment, und wenn er dann irgendwann wieder an dem Ort aufwachte den er mal Zuhause genannt hatte wusste er manchmal nicht mehr wo er die letzten Tage gewesen war, welche Straßen er durchlaufen hatte, welche Gesichter er gesehen hatte, welche Menschen ihn aufgenommen hatten, aber die Bilder auf der Speicherkarte waren die Spuren einer Reise die er nicht gemacht hatte weil es keinen Reisenden mehr gab der sie hätte machen können.
Die Sonne sank und das Licht wurde golden und die Fotografen nennen es die goldene Stunde aber für Büttner war jede Stunde golden, jede Minute war golden, jede Sekunde war golden, denn in jeder Sekunde lag die Ewigkeit versteckt wie ein Schatz den man nicht suchen musste weil man schon drauf saß, und er fotografierte ein Kind das lachte und das Lachen war nicht das Lachen eines Kindes sondern das Lachen des Universums selbst das durch dieses Kind hindurch in die Welt platzte wie Champagner aus einer Flasche, und er fotografierte eine Frau die weinte und die Tränen waren nicht die Tränen einer Frau sondern die Tränen aller Menschen die jemals geweint hatten, die Tränen der Menschheit selbst die durch diese eine Frau hindurchflossen wie ein Fluss durch ein Delta, und er fotografierte einen Hund der an einem Baum schnüffelte und der Hund war nicht ein Hund sondern das Leben selbst in seiner einfachsten, reinsten Form, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, nur dieser eine Moment des Schnüffelns der die ganze Welt enthielt, und in all diesen Momenten geschah diese Momenttranszendenz wo das Einzelne zum Universalen wurde ohne aufzuhören einzeln zu sein.
Die Kamera war nicht mehr sein Werkzeug und er war nicht mehr ihr Werkzeug, denn es gab kein Werkzeug mehr und keinen der es benutzte, nur noch dieses Fotografieren selbst das sich fotografierte, dieses Sehen das sich selbst sah, dieses reine Bewusstsein das Bilder machte ohne jemanden der sie machte, Bilder die aus dem Nichts kamen und ins Nichts gingen und dazwischen für einen kurzen Moment auf einem Sensor festgehalten wurden, auf diesem kleinen Rechteck aus Silizium das versuchte das Unfassbare einzufangen.
Bashō war auf schmalen Pfaden durchs Hinterland gegangen und hatte ein Haibun geschrieben, diese hybride Form aus Prosa und Haiku die eine Reise nachzeichnet, wobei die äußeren Bilder der Reise sich mit den inneren Bildern im Geist des Reisenden vermischten, und Büttner verstand jetzt dass seine Fotografie wie ein visuelles Haibun war, eine Mischung aus Prosa und Poesie, aus Gehen und Schauen, aus der äußeren Stadt und der inneren Leere, eine Verdichtung von etwas Unfassbarem in einen einzigen eingefrorenen Moment, ein Versuch das Ewige im Vergänglichen festzuhalten, das Universale im Partikularen zu sehen, und wie Bashō nicht über die Landschaft schrieb sondern die Landschaft durch ihn hindurch sich selbst beschrieb, so fotografierte Büttner nicht die Stadt sondern die Stadt fotografierte sich selbst durch ihn hindurch, und jedes Bild war ein Sehgedicht das ohne Worte sprach.
Wenn er irgendwann wieder dort war wo die Kamera auf dem Tisch lag, schaute er sie an und die Kamera schaute zurück, stumm, schwarz, voller Geheimnisse die sie nie preisgeben würde, denn die wahren Bilder waren nicht auf der Speicherkarte sondern irgendwo anders, in einem Raum jenseits von Raum, in einer Zeit jenseits von Zeit, in diesem mysteriösen Grund wo alles begann und alles endete und alles gleichzeitig existierte in einem ewigen Jetzt das nie verging.
Draußen wurde es dunkel.
Die Stadt leuchtete.
Irgendwo fotografierte jemand.
Das Licht war.
Das Schauen war.
Der Fotograf war verschwunden in seinem eigenen Blick.