Die Bitumenschmelze – Ein alchemistischer Akt der Kunst

Bitumenschmelze 1
Schlachthof Wiesbaden
1997
Wenn Sascha Büttner 1997 in Wiesbaden seine ersten Bitumenschmelzen als öffentliche Ereignisse inszeniert, etabliert er eine Praxis, die sich jeder gängigen Kategorisierung entzieht. Das Material selbst – schwarz, klebrig, gesellschaftlich geächtet – wird zum Akteur einer Performance, deren temporale Dimension das traditionelle Skulpturenverständnis fundamental erschüttert. Bitumen, normalerweise Garant baulicher Ewigkeit und Schutz vor Verfall, erfährt hier eine semantische Umkehrung: Aus dem Konservierungsmittel wird der Protagonist eines Materialtransformismus, der Vergänglichkeit und Dauer gleichermaßen thematisiert.
Die Anordnung ist von bestechender Einfachheit: Eine Kochplatte, Bitumen, Zeit. Die Heizung versetzt das feste Material in einen flüssigen Aggregatzustand, wobei dieser Übergang zum eigentlichen Kunstwerk avanciert. Es handelt sich um eine Art moderner Alchemie, die weniger auf die Transmutation von Metallen als vielmehr auf die Transformation von Wahrnehmung zielt. „Bitumen ist universell. Bitumen erstickt. Bitumen läßt außer sich selbst nichts zu“, notiert Büttner – eine Beobachtung, die das Material als totalitäres Medium charakterisiert, das jede Koexistenz verweigert.

Bitumenschmelze 1
aktiv
Diese performative Materialbehandlung artikuliert sich als Kritik an der konventionellen Kunstproduktion, die edle Werkstoffe bevorzugt und dabei jene Substanzen marginalisiert, die unsere gebaute Umwelt tatsächlich konstituieren. Büttners Präferenz für das „Geschmähte“ – Bitumen, Blei, Kupfer – operiert als künstlerische Archäologie des Verworfenen. Wo andere Künstler mit Öl malen, verwendet er Essig auf Kupfertafeln; wo Tradition Veredelung fordert, praktiziert er bewusste Degradierung.
Der Schmelzvorgang selbst entfaltet eine eigentümliche Temporalschicht, die zwischen meditativer Langsamkeit und irreversibler Endgültigkeit oszilliert. „Wenn die Heizplatte das Bitumen schmilzt und der Wärmetod eintritt, dann bleibt nichts als Skulptur und die Erinnerung an das, was einmal war“, bemerkt das Atelier Bratwurst. Diese Formulierung erfasst präzise die paradoxe Struktur der Arbeit: Sie produziert Dauerhaftigkeit durch Zerstörung, Erinnerung durch Vergessen, Objekt durch Prozess.
Die Bitumenschmelze situiert sich bewusst im Zwischenraum etablierter Gattungen. Sie ist weder reine Performance noch klassische Skulptur, entwickelt aber eine hybride Ästhetik, die zeitbasierte und objekthafte Dimensionen verschränkt. Das erkaltete Bitumen fungiert als materielles Zeugnis eines vergangenen Ereignisses, während der Schmelzprozess selbst als flüchtiger performativer Akt in der Erinnerung der Anwesenden fortbesteht.

Einladungskarte
Büttners Materialwahl reflektiert dabei gesellschaftliche Verdrängungsarchitekturen. Bitumen garantiert zwar Beständigkeit, wird aber peinlich gemieden, sobald es in die Nähe menschlicher Lebenswelten gerät. Diese Ambivalenz zwischen Nützlichkeit und Abscheu macht das Material zu einem idealen Medium für eine Kunst, die Widersprüche thematisiert, statt sie zu harmonisieren. Die Bitumenschmelze wird so zur Allegorie einer Moderne, die ihre eigenen Grundlagen systematisch ausblendet.
Die 1997 realisierten Arbeiten markieren einen Wendepunkt in Büttners Entwicklung und bahnen den Weg zu seiner späteren Serie „Wiesbadener Raum“, wo die Substanzpalette um Kupfer und Blei erweitert wird. Gemeinsam ist diesen Materialien ihre Funktion als Isolatoren – sie schützen, indem sie abschirmen, bewahren durch Ausschluss. In der künstlerischen Anwendung kehrt sich diese Schutzfunktion in ihr Gegenteil: Die Werkstoffe werden zu Medien der Offenlegung, zu Katalysatoren ästhetischer Transformation.
Die Bitumenschmelze etabliert somit eine Praxis, die industrielle Materialität und künstlerische Reflexion in produktive Spannung versetzt. Sie erinnert daran, dass Kunst ihre kritische Potenz weniger durch Flucht in autonome Sphären als durch Konfrontation mit den Bedingungen ihrer eigenen Produktion entfaltet. In einer Zeit zunehmender Entkörperlichung kultureller Praxis beharrt Büttners Verfahren auf der subversiven Kraft des Stofflichen – eine Position, die umso dringlicher wird, je virtueller unsere Welt sich gestaltet.