Das Labyrinth als Selbstporträt

Sascha Büttner nimmt sich vor, die Welt zu erfassen. Seit den 1990er Jahren wuchert ein Projekt, das er den Wiesbadener Raum nennt – eine Akkumulation von Bildern, Texten, Performances, Installationen, die sich über Jahrzehnte durch Galerien, Ateliers und Publikationen zieht. Was zunächst wie ein Katalogisierungsprojekt erscheint, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als komplexeres Unterfangen: eine obsessive Vermessung, die zwischen Kartografie und Autobiografie oszilliert.

Der Wiesbadener Raum ist Testfeld, wie es im Untertitel heißt – ein Versuchsaufbau zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst. Büttner beginnt in den 1990er Jahren mit Bitumenarbeiten, fügt Performances hinzu, entwickelt Fotografien, die als induzierte Bilder aus Erinnerung funktionieren. Er arbeitet mit Künstlergruppen wie FfK und dem Atelier Bratwurst, gründet das metalabor, initiiert die Radical Dude Society. Das Projekt verzweigt sich über Städtebilder, die identisch in der Form bleiben, nur im Namen variieren – Frankfurt, Limburg, Mainz. Es akkumuliert Bitumenboxen, die traditionelle Gesten einkapseln, halbdurchlässige Behälter für das, was Büttner seine Wurzeln nennt.

Was hier entsteht, folgt keiner konventionellen Werklogik. Jede Ausstellung des Wiesbadener Raums – Mainzer Fassung 2000 (Urfassung), Büchergilde Wiesbaden 1999 (Preview), später in Bern, Wien, Berlin – ist eine neue Schichtung, ein Update des Systems. Das Material wuchert: Polaroids stapeln sich neben schematischen Darstellungen, Erinnerungsbatterien liegen neben Bleifahnen, Kommunikationseinheiten aus Sofas und Schreibtischen bilden Zonen des Austauschs. Die Installationen funktionieren als Interface, das Besucher zur Reflexion über eigene Wertvorstellungen einlädt. Hier etabliert sich eine Verfallsästhetik, in der Zeit als Ko-Autorin fungiert – die Materialien altern mit, verändern sich durch Berührung, Licht, Witterung.

Büttner operiert mit Pseudonymen und Rollenwechseln. Das Handbuch zum Wiesbadener Raum changiert zwischen Katalog, Werksverzeichnis, Biografie und Fiktion – was Tatsache, was Aneignung, was Erfindung ist, bleibt absichtlich ungeklärt. Büttner inszeniert sich als Künstlerfürst, Fotograf, Gammler, als charakterloser, flexibler Mensch, der jede Gestalt annehmen kann. Die biografischen Angaben widersprechen einander: Geboren 1966, oder 1965, oder zu einer anderen Zeit. 1984 kabelt er nach New York: „Ich lebe noch, Sascha Büttner“. Die Identität verflüssigt sich, wird zum Konstrukt innerhalb des eigenen Werks. Pseudonyme und Rollenwechsel, so heißt es im erweiterten Handbuch, sind Strategie, um mit einer gewissen Freiheit unter dem Schutz einer anderen Identität zu agieren. Diese Unmarkierbarkeit schützt das Werk vor Vereinnahmung, hält es beweglich.

Die Städtebilder – eine Serie über 25 Jahre – sind exemplarisch für diese Methode. Gleichbleibende Form, wechselnder Städtename. Was wie Objektivierung wirkt, ist hochgradig subjektiv: eine Verdichtung von Geschehnissen und Emotionen im Namen eines Ortes. Die Zeit steht still in diesen Bildern, man liest mehr die eigene Geschichte ab als die Geschichte der Bilder. Büttners Mantra: Worte sind Konzepte, Konzepte formen Bilder.

Die Fotografie spielt eine Sonderrolle im Labyrinth. Büttner entwickelt eine Theorie der induzierten Bilder – Fotografien, die aus Erinnerung entstehen, aus inneren Vorabbildern. 1994 hält er einen Vortrag am Brooks Institute über das Phänomen, später erscheint es im Buch „Bilder aus Erinnerung“. Die Frage, die ihn umtreibt: Ist der Wiesbadener Raum selbst ein Bild aus vielen Bildern aus Erinnerung, oder ergeben sich die Bilder aus Erinnerung aus dem Wiesbadener Raum? Ein Henne-Ei-Problem, das Büttner als existentielle Frage behandelt.

Schicht um Schicht häuft sich das Material. Die Bitumenboxen konservieren eingekapselte Gesten, wirken wie Kühlboxen für das einst Kultisch-Magische. Jede Box bildet eine Temporalschicht, in der vergangene Aktionen gespeichert, eingefroren, dem Zugriff entzogen werden. Die Installationen funktionieren als rhizomatische Gebilde, es gibt keine Disziplin, die sich nicht im Wiesbadener Raum niederschlägt. Fotografie, Malerei, Performance, Konzeptkunst, Coaching, Lebensführung – alles fließt ineinander. Das Wiki Institut, das Büttner gründet, wird zum Container für diese expandierende Praxis. Das Projekt breitet sich über tausend Plateaus aus, wie es im Erweiterungsband heißt, angelehnt an Deleuze und Guattari.

Erst in der Rückschau, nach Jahrzehnten der Produktion, wird die Struktur lesbar. Das Labyrinth, das Büttner konstruiert hat, bildet die Welt gar nicht ab. Es gibt die Topografie seiner eigenen Obsessionen wieder, zeichnet die Anatomie eines künstlerischen Lebens nach. Die Auswahl der Orte, die Wiederholung bestimmter Materialien (Bitumen als Konstante), die Inszenierung der eigenen Person unter verschiedenen Namen – all das formt ein ungewolltes Selbstporträt. Der Versuch, Bezugs- und Wertesysteme in der Kunst zu erforschen, kehrt zurück zum Forscher selbst. Hier entfaltet sich eine Verschwindungspraxis, die durch systematisches Entzugsverhalten paradoxerweise Präsenz erzeugt.

Hier offenbart sich die eigentliche Pointe des Projekts. Das Gesicht, das im Labyrinth erscheint, meint mehr als physiognomische Züge. Es ist der Körper des Künstlers, der sich in der räumlichen Anordnung abzeichnet – die Wege, die er gegangen ist, die Orte, an denen er verweilte, die Materialien, die seine Hände berührten. Präziser: Es ist Leiblichkeit, die hier zum Vorschein kommt, jene phänomenologische Dimension, in der Subjekt und Welt untrennbar verschränkt sind. Der Leib lässt sich von außen betrachten. Er ist die gelebte Perspektive selbst, das Medium, durch das Welt überhaupt erst zugänglich wird.

Der Wiesbadener Raum dokumentiert diese Leiblichkeit als wechselseitigen Abdruck. Die Frage nach der Richtung – prägt sich die Welt in Büttners Körper ein oder der Körper in die Welt – erweist sich als falsch gestellt, denn beide Bewegungen vollziehen sich simultan, bedingen einander. Die Bitumenschmelzen von 1997 sind Ereignisse maximaler sinnlicher Präsenz, bei denen Material, Hitze und Geruch zu einer synästhetischen Erfahrung verschmelzen, die sich einerseits tief ins Gedächtnis gräbt, andererseits materielle Spuren in Raum und auf Oberflächen hinterlässt. Eine Zerfallsästhetik regiert diese Prozesse – nichts bleibt stabil, alles transformiert sich unter dem Einfluss von Zeit und Berührung. Die Fotostreifzüge, die Büttner als praktische Philosophie begreift, sind Aufzeichnungen leiblicher Bewegung durch urbanen Raum – der Körper durchquert die Stadt, während die Stadt sich gleichzeitig in den Körper einschreibt, als Müdigkeit in den Beinen, als fotografisches Gedächtnis, als internalisierte Topografie.

Die Performance „Der Natur ihr Geheimnis entlocken“ von 1985 – bei der Büttner stundenlang Punkte auf einem Acker mit einem als „Urrad“ titulierten Pfahl verbindet – wird zur rituellen Einschreibung des eigenen Körpers in Landschaft. Jeder Schritt, jeder Stab, der in den Boden getrieben wird, hinterlässt eine Markierung im Feld. Gleichzeitig drückt sich das Feld in den erschöpften Körper ein, die Beschaffenheit des Bodens wird spürbar in Muskeln und Gelenken, der Rhythmus der Aktion prägt sich ein als körperliches Wissen. Das Werk entsteht zwischen diesen beiden Polen der Impression – der Eindruck, den die Welt auf den Leib ausübt, und der Eindruck, den der Leib der Welt aufzwingt.

Was als Welterfassung beginnt, wird zur Selbstvermessung durch wechselseitige Prägung. Die Linien, die Büttner zieht, kartieren seine eigene Existenz, tragen aber gleichzeitig zur Formung dieser Existenz bei. Organe werden zu Orten, Geschichten zu Gewebe, Begegnungen zu Narben im System – die Metaphern funktionieren bidirektional. Das Projekt entwickelt eine eigentümliche Physiologie: Die Bitumenboxen fungieren als verschlossene Organe, die Erinnerungsbatterien als synaptische Speicher, die Kommunikationseinheiten als soziale Nervensysteme. Der gesamte Wiesbadener Raum lässt sich lesen als Externalisierung eines inneren Körpers, als Anatomie-Atlas des Subjektiven, der zugleich auf dieses Subjektive zurückwirkt, es strukturiert, ihm Form gibt. Eine Absenzpräsenz durchzieht das Projekt – Werke, die physisch verschwinden, bleiben konzeptuell wirksam, manchmal wirksamer als ihre materiellen Vorgänger.

Diese wechselseitige Durchdringung zeigt sich besonders deutlich in Büttners Umgang mit Städten. Die Städtebilder – Frankfurt, Limburg, Mainz – sind keine neutralen Abbildungen, eher affektive Verdichtungen. Jeder Ortsname trägt die Spur dessen, was Büttner dort erlebt, gesehen, gefühlt hat. Die Stadt drückt sich ein als Gesamteindruck, der wiederum in einem Bild kondensiert, das dem Ort eine neue Bedeutungsschicht hinzufügt. Wer Büttners Frankfurt-Bild sieht, sieht Frankfurt durch seine Augen gefiltert – die Stadt wird zum Träger seiner Perspektive. Der Leib fungiert hier als Transformator, der Welt aufnimmt und verändert zurückgibt.

Büttner schreibt: „In Dr. h.c. Holger Heinzes Buchklub lernte ich, dass meine Sehnsucht nach der vergangenen Zeit eine Sehnsucht nach einem Zustand der Trennung, der Unterbrechung, des Ausgeschaltetsein sein könnte.“ Diese Sehnsucht nach Unterbrechung steht in merkwürdigem Kontrast zur permanenten Aktivierung des Projekts, zur unablässigen Produktion. Vielleicht liegt darin eine weitere Schicht der wechselseitigen Prägung: Der Wunsch nach Ausschalten treibt die Produktion an, die Produktion verstärkt den Wunsch. Die Bitumenboxen halten fest, was vergeht, kodieren Leiblichkeit als schwarze Monolithen, die ihre Geheimnisse preisgeben – sie sind zugleich Abdruck vergangener Momente und Schutz vor deren vollständiger Auflösung. Hier wirkt eine Verflüchtigungspraxis, die Referenzen andeutet, ohne sie vollständig zu fixieren, die Spuren legt, die sich wieder verwischen.

Das Labyrinth bleibt mehrdeutig in seiner Gerichtetheit. Jede Kartierung ist bereits eine Selbstvermessung, jedes Testfeld ein Abbild des Testenden, jeder Abdruck des Leibs in der Welt zugleich ein Abdruck der Welt im Leib. Der Wiesbadener Raum wird zum Doppelabdruck – zu einer Aufzeichnung gelebter Erfahrung, die sich erst nachträglich als solche zu erkennen gibt, während sie gleichzeitig die Bedingungen dieser Erfahrung mitformt. Die angeeigneten Bildwerke und Texte sind so verfremdet, dass das ursprüngliche Material vermutet, kaum identifiziert werden kann. Diese Praxis der Aneignung spiegelt die Grundoperation: Alles, was Büttner aufnimmt, wird transformiert, gefiltert durch seine Perspektive, bleibt doch erkennbar als Fremdreferenz. Genau in dieser Transformation zeigt sich die Leiblichkeit am deutlichsten – der Leib ist immer schon situiert, immer schon verstrickt in Welt, kann gar anders als aneignend wahrnehmen, kann gar anders als das Aufgenommene durch die eigene Existenz färben.

Am Ende steht eine dreifache Enthüllung. Der Wiesbadener Raum ist das Gesicht seines Schöpfers – präziser: sein Körper, noch präziser: seine Leiblichkeit. Die drei Begriffe markieren Stufen der Annäherung. Das Gesicht erscheint als erste Offenbarung, als erkennbare Physiognomie im Gewirr der Linien. Der Körper tritt hervor als räumliche Ausdehnung, als Summe der Bewegungen und Berührungen, als anatomische Struktur. Die Leiblichkeit schließlich bezeichnet jene fundamentale Dimension, in der Innen und Außen ununterscheidbar werden, in der die Trennung von Subjekt und Objekt zusammenbricht, in der die wechselseitige Prägung von Selbst und Welt sichtbar wird.

Diese dreifache Enthüllung vollzieht sich als zwangsläufiges Ergebnis jahrzehntelanger Welterfassung. Die Linien, die Büttner gezogen hat, beschreiben tatsächlich Orte, Personen, Ereignisse. Ihre Anordnung, ihre Verdichtung, ihre Leerstellen – das ist die Handschrift einer Innerlichkeit, die sich erst im Nachhinein selbst lesen kann, während sie gleichzeitig die Spuren ihrer Eindrücke in die Welt zeigt. Das Labyrinth funktioniert als Spiegel, der erst nach Jahrzehnten der Arbeit reflektiert, als Echoraum, in dem die eigene Stimme erst verzögert hörbar wird, als Archiv jener Momente, in denen Welt und Leib einander durchdringen.

Die Welt, die Büttner abbildete, war von Anfang an die gefilterte, die durch seine leibliche Perspektive gebrochene. Sein Körper war im Material eingeschrieben, als Wasserzeichen, als latentes Bild. Zugleich hat sich die Welt in seinen Körper eingeschrieben – als Erschöpfung nach Performances, als visuelles Gedächtnis nach Fotostreifzügen, als taktile Erinnerung an Bitumen und Blei. Der Wiesbadener Raum beweist: Wer die Welt zeichnet, zeichnet sich mit, während er sich durch das Zeichnen verändert. Das Subjekt lässt sich weder eliminieren noch fixieren – es existiert im Vollzug der wechselseitigen Prägung, in jener Zone der Ununterscheidbarkeit, wo Eindruck und Ausdruck zusammenfallen. Die Ironie ist perfekt: Der Versuch, objektiv zu kartieren, produziert das subjektivste aller Dokumente, während dieses Dokument zugleich zeigt, wie sehr das Subjektive vom Objektiven durchdrungen ist. Das geduldige Labyrinth aus Linien gibt am Ende das Bild des eigenen Leibs wieder – jene unhintergehbare Verwurzelung in der Welt, von der aus überhaupt erst gezeichnet werden kann, die aber durch das Zeichnen selbst erst ihre Form erhält.