Die zyklische Wissensproduktion nach Sascha Büttner
Am Ende des vierundzwanzigsten Jahres des einundzwanzigsten Jahrhunderts lädt Sascha Büttner zum zehnten Mal zu seinem metalabor ein. Was als experimenteller Thinktank 2016 mit der Frage „Was tun?“ begann, hat sich zu einer Diskurs-Deterritorialisierung entwickelt, die sowohl die Erstarrung akademischer Diskurse als auch die Vereinnahmung durch kulturelle Verwertungslogiken systematisch unterläuft. Das metalabor verkörpert dabei jene Prinzipien des Non-linearen und Zyklischen, die Büttner bereits in seinen frühen Bitumen-Arbeiten der 1990er Jahre erprobte – nun übersetzt in eine kollektive Denk- und Gesprächspraxis.
Genealogien der Undokumentierbarkeit
Die konzeptuelle Architektur des metalabor lässt sich nur verstehen im Kontext von Büttners lebenslangem Experimentieren mit dem, was er „undokumentierte Existenz“ nennt. Schon in den Schlachthof-Jahren Wiesbadens (1994-1997), als Büttner das „Laboratorium“ als offene Bühne veranstaltete, entwickelte er Formate, die sich der kulturindustriellen Verwertung systematisch entzogen. Die 48-Stunden-Kunst-Events, die er damals organisierte, folgten bereits jener zyklischen Logik, die heute das metalabor strukturiert: intensive Verdichtung statt quantitativer Ausweitung, temporäre Gemeinschaften statt institutionelle Dauerhaftigkeit.
Das metalabor knüpft an diese frühen Experimente an und transformiert sie zu einer reifen Praxis der Konversations-Alchemie. Wo damals noch die Transgression im Vordergrundstand – Büttner gründete Noise-Trash-Ensembles wie „Blutiger Mischwald“, veranstaltete Kongresse zu „Borderline-Strategien“ –, operiert das metalabor heute mit einer Art nachrevolutionärer Besonnenheit. Die radikalen Gesten sind sedimentiert zu methodischen Prinzipien: Die „unmilitärische, enthierarchisierte Sozialform“ des metalabor ist die reife Frucht früherer Experimente mit alternativer Institutionalität.
Die Camera Obscura als epistemisches Modell
Büttners Konzept der „transgressiven Raumkonfiguration“ – entwickelt während seiner transatlantischen Wanderungen mit der Camera Obscura – findet im metalabor seine diskursive Entsprechung. Das Selbstversorgerhaus „Grand Hotel Europa“ im Lahntal fungiert als räumliche Extension jenes „Wiesbadener Raums“, den Büttner bereits um 2000 als Heterotopie etablierte. Hier vollzieht sich jene „Deterritorialisierung“ von festen Denkstrukturen, die Büttner als Grundoperation jeder produktiven Wissensarbeit betrachtet.
Die Camera Obscura – jenes „Ultimate Reduction Device“, mit dem Büttner einst amerikanische Landschaften zu monochromen Projektionen kondensierte – wird im metalabor zum methodischen Prinzip: Reduktion als Erkenntnisverfahren. Die komplexe Themenvielfalt zeitgenössischer Diskurse wird durch die spezifische Konstellation des metalabor – 48 Stunden, zehn Teilnehmende, ein Thema – zu konzentrierten Erkenntnisformen verdichtet. Diese „materiell-verbale Kompensation“ ermöglicht es, verschwundene oder nie realisierte Gedanken in sprachliche Formen zu überführen, die kollektiv weiterbearbeitet werden können. Das metalabor praktiziert dabei eine Temporale Verdichtungsökonomie, die gegen die extensive Wissensanhäufung der Gegenwartskultur operiert.
Gegen die Beschleunigung: Zeit der Dauer
Das metalabor praktiziert bewussten „Farb-Verzicht“ – nicht im visuellen, sondern im temporalen Sinne. Während akademische Konferenzen und Kulturveranstaltungen zunehmend auf spektakuläre Effekte und maximale Informationsdichte setzen, kultiviert Büttners Format eine „Zeit der Dauer“. Diese Praxis steht in direkter Verbindung zu seinen monochromatischen Arbeiten der 1990er Jahre: Wie damals das Bitumen als „universelles Medium“ gegen die chromatische Überreizung der Kunstwelt gesetzt wurde, so fungiert heute die verlangsamte Gesprächszeit als Widerstand gegen die Beschleunigungslogik des Wissenschafts- und Kulturbetriebs.
Die zyklische Struktur des metalabor – jährliche Wiederkehr, identische Formate, kontinuierliche Teilnehmerschaft – erzeugt jene „post-spirituelle Monochromie“, die Büttner bereits in seinen Bitumen-Texten theoretisiert hatte. Nicht metaphysische Überhöhung, sondern „industrielle Materialität“ als Alternative zur spektakulären Diskursproduktion. Das metalabor wird so zum „topologischen Realitätsprozessor“, der durch seine spezifische Raumzeit-Konfiguration alternative Bewusstseinsformen ermöglicht.
Die zehnte Iteration: Reife und Gefährdung
Mit der zehnten Ausgabe erreicht das metalabor eine kritische Schwelle. Was zunächst als radikal-experimentelles Format konzipiert war, hat inzwischen eigene Traditionen entwickelt. Die Gefahr der Institutionalisierung – gegen die Büttner seit den 1990er Jahren kämpft – wird zu einer realen Herausforderung. Wie kann das metalabor seine „interspezifische Bewusstseinsform“ bewahren, ohne in bildungsbürgerliche Selbstgewissheit zu verfallen? Das Format entwickelt dafür Strategien der Auto-Dekonstruktion – systematische Verfahren der Selbstbefragung, die Erstarrungstendenzen präventiv unterlaufen.
Büttners Antwort liegt in der konsequenten Anwendung seiner „Annäherungsmethodologie“: Statt das Erreichte zu konservieren, praktiziert das metalabor systematische Selbstbefragung. Jede Ausgabe wird zum Experiment mit den eigenen Grundlagen. Die thematische Entwicklung von „Was tun?“ (2016) zu „Wildes Denken und Nachtfahrten“ (2026) dokumentiert diese kontinuierliche Selbsttransformation: von handlungstheoretischen zu kosmologischen Fragestellungen, von politischer Dringlichkeit zu ontologischer Grundlagenarbeit.
Hybride Existenz zwischen Kunst und Theorie
Das metalabor realisiert Büttners Konzept der „Hybrid-Existenz“ als methodisches Prinzip. Weder reine Kunstpraxis noch akademische Veranstaltung, entwickelt es Formen der „trans-humanen Sensorik“, die verschiedene Erkenntnismodi integriert. Die kollektive Reproduktionsarbeit – Kochen, Essen, Hausarbeit – wird integral zum Denkprozess, körperliche und geistige Tätigkeiten verschränken sich zu alternativen Wissensformen.
Diese Praxis steht in direkter Kontinuität zu Büttners frühen Experimenten mit dem Verhältnis von Kunst und Leben. Schon die Gründung des „Atelier Bratwurst“ am Schlachthof (1994) zielte auf die Integration von Alltagspraxis und künstlerischer Produktion. Das metalabor universalisiert diesen Ansatz: Nicht mehr individuelle Künstlerexistenz, sondern kollektive Wissensproduktion als Praxis-Theorie-Amalgam – eine Verschmelzung, die weder auf reine Kontemplation noch auf bloße Aktion reduzierbar ist.
Die entstehenden Reader dokumentieren diese ephemeren Prozesse und machen sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Doch im Unterschied zu konventioneller akademischer Publikationstätigkeit fungieren diese Texte als „Gedächtnis“ temporärer Gemeinschaften – Archive flüchtiger Erkenntnismomente, die durch ihre spezifische Konstellation entstanden sind und nicht reproduzierbar bleiben.
Ausblick: Das Undokumentierbare dokumentieren
Das metalabor steht exemplarisch für eine Generation post-institutioneller Praktiken, die zwischen künstlerischer Autonomie und gesellschaftlicher Verantwortung neue Wege suchen. Büttners „Metamorphose-Choreographie“ – die systematische Transformation starrer Denkstrukturen durch kollektive Experimente – könnte wegweisend werden für alternative Formen der Wissensproduktion jenseits universitärer und kulturindustrieller Verwertungslogiken.
Die zentrale Paradoxie bleibt bestehen: Wie lässt sich das Undokumentierbare dokumentieren, ohne es zu verraten? Büttners Antwort liegt in der Perfektionierung jener „materiell-verbalen Kompensation“, die er bereits in seinen Bitumen-Texten entwickelte. Das metalabor wird zum lebenden Archiv seiner eigenen Auflösung – eine Praxis, die ihre Flüchtigkeit als methodisches Prinzip kultiviert und gerade dadurch Dauerhaftigkeit gewinnt.
In einer Zeit, da alternative Räume und kritische Diskurse zunehmend unter Druck geraten, erweist sich Büttners metalabor als nachhaltige Form des Widerstands: nicht spektakulär, aber beharrlich; nicht laut, aber konsequent; nicht dokumentierbar, aber wirksam. Die zehnte Iteration markiert nicht den Abschluss, sondern die Reifung eines Experiments, das seine produktivsten Jahre möglicherweise noch vor sich hat.