Das Spiel ist das Paradies

Die Bank und die Bank und die Bank, dachte Büttner, während er auf der Bank saß und an die Bank dachte, wo sein Geld lag oder nicht lag, das war die Frage, und das Wort Bank klang immer gleich, egal ob du dein Geld verloren hattest oder nur deinen Platz im Park, und war das nicht schön, irgendwie, diese Verwechslung, diese heilige Verwirrung der Sprache, die wie ein Kartenhaus zusammenfallen konnte oder wie ein Kartenhaus, mit dem man spielte, Poker oder Bridge oder Go Fish, und alles hing davon ab, welches Spiel du gerade spieltest, und er trank seinen Kaffee und der schmeckte bitter wie die Wahrheit oder wie eine Lüge, beides bitter, beides notwendig, und dann war da dieses Mädchen, Marie oder Maria oder Mary, drei Namen, ein Klang, wie der Atlantik in drei Sprachen, und sie hatte ihm erklärt, dass das Deutsche ein Paradies sei für Wortspiele, weil die Wörter so lang waren und sich in sich selbst versteckten wie russische Puppen, und im Spiel, sagte sie, im Spiel kannst du alles sein, Bank und Bank und Bank, Schloss und Schloss, Kiefer und Kiefer, der Baum und der Knochen, beides hart, beides wachsend, beides Teil von etwas Größerem, und diese Doppelgänger der Sprache, diese Zwillinge mit identischen Gesichtern aber verschiedenen Seelen, die machten das Spiel erst möglich, und das Spiel, das war der Ort, wo man lernte, wie der andere tickte, wie er dachte, welche Bank er meinte, und das geschah leicht, spielerisch, wie ein Tanz, bei dem man nicht über die Schritte nachdachte, sondern einfach tanzte und der andere tanzte mit und plötzlich wusstet ihr beide, wohin die Reise ging, ohne Worte, nur durch das Spiel selbst, diese Wortwendigkeit, die zwischen zwei Menschen entstand, wenn sie aufhörten zu erklären und anfingen zu verstehen, und sie hatte gefragt „Was spielst du gerade?“ und er hatte gesagt „Leben“ und sie lachte und sie verstand und das war das Schöne, dass man sich verstehen konnte ohne alles auszusprechen, dass die Sprache mit ihren Doppelgesichtern einen zwang, genauer hinzuhören, tiefer zu graben, zwischen den Zeilen zu lesen, und im Spiel war alles erlaubt und nichts verboten außer dem Aufhören, und diese Tarnung der Bedeutungen, dieses Versteckspiel, wo Wörter sich verkleiden konnten wie auf einem venezianischen Ball, und du wusstest nie, ob die Bank eine Bank war oder ob der Ball ein Ball war, ob du tanzen solltest oder werfen, sitzen oder investieren, und genau das war die Freiheit, aber auch die Verantwortung, denn wenn du „Bank“ sagtest und die andere Person verstand „Bank“ im falschen Sinne, dann war das dein Zug gewesen und ihre Antwort und plötzlich spieltet ihr ein anderes Spiel als gedacht, und das war die Lektion, die man nur spielend lernte, dass Wörter Geschwister hatten, identische Klänge mit fremden Herzen, und dass man sich aufeinander einstellen musste, Zug für Zug, Wort für Wort, bis man eine gemeinsame Sprache fand in der Sprache, eine Bedeutungsbrücke, die man zusammen baute aus Missverständnissen und Klärungen und neuen Missverständnissen, und das war wie bei den Hunden im Park, die miteinander kämpften aber nicht kämpften, deren Zähne gebleckt waren aber nicht angriffen, deren Körper sich aufbäumten aber nicht verletzten, weil das Spiel aus der Aggression etwas anderes machte, etwas Neues, eine Verwandlung von Kraft in Freude, von Bedrohung in Verbindung, und so war es auch mit den Worten, die ihre ursprüngliche Bedeutung ablegten wie eine alte Haut und etwas anderes wurden im Kontext des Spiels, im Kontext des Miteinanders, und Saite und Seite und Seide, alle drei zart, alle drei können reißen, und Kerouac hatte geschrieben über die Straße und Hemingway über das Meer, aber niemand hatte geschrieben über die Sprache als Spielplatz, als Paradies der Verkleidungen, wo das Wort „Tor“ sowohl das Durchgangsloch war als auch der Idiot, und manchmal waren diese beiden Bedeutungen gar nicht so verschieden, wenn man ehrlich war, denn wer durch manche Tore ging, war ein Tor, und wer ein Tor war, brauchte manchmal ein Tor, um hindurchzugehen, zurück in die Welt der Nicht-Toren, und das war der Witz, der geheime Witz der Sprache, dass sie sich selbst nicht ernst nahm, dass sie spielte mit ihren eigenen Regeln, und er stand auf und ging zur Straße und überquerte sie nicht und dachte über die Spielregeln nach, und er dachte das auf Deutsch, obwohl er manchmal auf Englisch träumte, die Spielregeln ändern sich je nachdem, welches Spiel du meinst, das Kinderspiel oder das Schauspiel oder das Glücksspiel oder das Machtspiel, aber in allen diesen Spielen waren diese Doppelgänger-Wörter die Joker, die wilden Karten, die alles verändern konnten, diese Klangzwillinge, die durch die Sätze tanzten und Verwirrung stifteten und Klarheit schenkten, oft beides gleichzeitig, und Marie hatte das verstanden, als sie ihm von ihrer Kindheit erzählte, wie sie immer „Maus“ und „Maus“ verwechselt hatte, das Tier und die Computer-Maus, und für sie war der Computer immer ein Tier gewesen, eine Art elektronische Kreatur mit einem schwanzlosen Nager an der Seite, und wie ihr Bruder dann immer gesagt hatte „nein, nicht diese Maus“ und sie hatte lernen müssen, auf seine Worte zu hören und ihre eigenen anzupassen, dieses Hin und Her, dieser Dialog der Bedeutungen, bis sie beide wussten, welche Maus gemeint war, ohne es zu sagen, und das war das Schöne an diesem ganzen Durcheinander der gleichen Klänge, dass es einen zwang zuzuhören, wirklich zuzuhören, und dabei entstand etwas Anmutiges, diese Art, wie zwei Menschen sich aufeinander einpendelten, wie sie lernten, den Rhythmus des anderen zu hören, seine Melodie in der Kakophonie der Bedeutungen, diese Eintonungskunst, die man nicht lernen konnte in Büchern, nur im Leben, nur im Spiel, wo das Unerwartete passieren durfte und musste, wo ein Wort plötzlich umkippen konnte in eine andere Bedeutung, wo „Schloss“ nicht mehr das Gebäude war sondern das Türschloss oder das Ende eines Prozesses, und diese Metamorphose geschah nach Regeln, ungeschriebenen Regeln, die beide Spieler kannten ohne sie je gelernt zu haben, und das war 1997 gewesen oder 1998, als Computer noch neu waren und die Welt auch, als das Atelier Bratwurst in der Nerostraße noch der Nabel der Kunstwelt war oder zumindest der Nabel Wiesbadens, und Büttner dort zwischen Bitumen und Beuys seinen eigenen Weg suchte, zwischen den Mitstreitern Bohl und KABAL und Reuss und dem Dodo, zwischen den Formaten die sie erfanden wie die Zeigung mit ihrer Publikumsbeschimpfung oder das Laboratorium mit seinen Trash-Noise-Exzessen, und mittendrin wuchs etwas heran, ein Begriff, ein Projekt, ein Lebenswerk, das noch keinen Namen hatte aber schon existierte, das später der Wiesbadener Raum heißen würde und das selbst ein riesiges Homonymion war, das größte das Büttner je erschaffen hatte, und jetzt saß er hier auf dieser Bank und dachte an die andere Bank und an Marie, die vielleicht Maria hieß oder Mary, und er wusste nicht mehr, welches Spiel er spielte, aber er wusste, dass jedes Wort, das er jetzt wählen würde, eine Antwort war auf ein Wort, das jemand anderes gesprochen hatte, und dass das Spiel nur funktionierte, wenn beide mitmachten, beide zuhörten, beide verstanden, dass Bank und Bank nicht dasselbe waren, außer sie waren es doch, und dass man in diesem Labyrinth der identischen Laute nur zusammen den Ausgang fand, Schritt für Schritt, in diesem seltsamen Tanz der Verständigung, dieser Wortwalzer, der nie endete, solange zwei Menschen redeten, und die Wörter, die er liebte: Flügel, das Instrument und der Vogelteil, Zug, die Eisenbahn und der Lufthauch und die Charaktereigenschaft, Läufer, der Teppich und der Sportler und die Schachfigur, eine ganze Familie von Bedeutungen unter einem Dach, und die Wörter, die ihn ängstigten: Absatz, der Text und der Schuh und der Verkauf, weil man nie wusste, was gerade endete oder anfing, diese Bedeutungsklippe, an der man abstürzen konnte, wenn man nicht aufpasste, und die Wörter, über die er noch nie nachgedacht hatte: Strauß, der Vogel und die Blumen, bis Marie ihm sagte, dass ihr Vater ihr immer einen Strauß gebracht hatte, aber sie als Kind immer an den großen Vogel gedacht hatte und enttäuscht war, nur Rosen zu bekommen, und Hemingway hätte geschrieben „Er dachte über Wörter nach, es half nicht“ aber Büttner dachte weiter, weil denken das einzige Spiel war, das man immer spielen konnte, ohne Karten, ohne Würfel, ohne Gegner außer sich selbst, und in diesem Spiel waren diese Zwillingswörter die besten Züge, die Überraschungsangriffe, die Momente, wo die Sprache sich selbst ein Bein stellte und lachend hinfiel und du mitmachen musstest, mitlachen, mithinfallen, weil alles andere humorlos gewesen wäre und was war das Leben ohne Humor außer einem sehr langen Montag, und das war vielleicht das Wichtigste, was er je gelernt hatte, nicht in der Schule, nicht in Büchern, sondern beim Spielen mit Worten und Menschen, dass man antworten musste auf das, was der andere sagte oder meinte oder fühlte, und dass diese Antwort wiederum eine neue Frage war, ein neuer Zug im großen Spiel der Bedeutungen, und dass die Sprache mit ihren Doppelgesichtern einen lehrte, genau hinzuhören, welches Gesicht gerade sprach, und dass das Spielen selbst die Brücke war, elegant und fast nebenbei, die einen Menschen mit dem anderen verband, bis man wusste, wie der andere dachte, fühlte, welche Wörter er benutzte und warum, diese Sprachmelodie, die jeder Mensch hatte, seinen eigenen Ton, seinen eigenen Rhythmus in der Symphonie der Homonymien, und er zündete sich eine Zigarette an und die Flamme und das Feuer und die Leidenschaft, alles dasselbe Wort in verschiedenen Kostümen, und dann erinnerte er sich an ein Spiel, das sie gespielt hatten, Marie und er, an einem Abend in Wien oder Berlin oder Zürich, er wusste es nicht mehr genau, die Städte verschwammen wie Aquarellfarben, und das Spiel hieß „Reise nach Homonymien“, und sie packten Luftkoffer mit Wortpaaren für diese imaginäre Reise, diese Koffer aus Nichts und Allem, aus Luft und Bedeutung, gefüllt mit den Schätzen der Sprachdopplung: Tau, das Seil und die Morgennässe, Steuer, das Lenkrad und die Abgabe, Pony, die Frisur und das Pferd, Rand, die Kante und die Währung, Hahn, der Vogel und der Wasserhahn, Bauer, der Landwirt und der Käfig und die Schachfigur, und je voller die Luftkoffer wurden, desto klarer wurde ihm, dass die Sprache selbst das größte Spiel war, das je erfunden worden war, von niemandem erfunden, von allen gespielt, ein Raum für Erfindungsreichtum, wo ein Wort wie „Hahn“ plötzlich nicht mehr das war, was es zu sein schien, wo es sich verwandelte je nach Kontext, wo die Bedeutung aufgelöst wurde und neu zusammengesetzt, wie bei den spielenden Hunden, deren Knurren plötzlich kein Knurren mehr war sondern Einladung, deren Zähnefletschen keine Bedrohung war sondern Versprechen auf Fortsetzung des Spiels, und so war es mit den Worten, die ihre Gestalt wechselten, ihre Haut abwarfen, sich neu erfanden in jedem Satz, in jedem Kontext, in jedem Spiel zwischen zwei Menschen, und dass man nur spielend begreifen konnte, wie sehr jedes Wort eine Verantwortung war, ein Versprechen, eine Brücke zwischen zwei Menschen, die beide entscheiden mussten, welche Bank sie meinten, welchen Ball sie warfen, welchen Flügel sie meinten, und dass dieses Land der identischen Klänge und verschiedenen Bedeutungen das Paradies war, nicht weil alles einfach war, sondern weil alles möglich war, und weil man dort lernte, sich auf den anderen einzustellen, auf seine Frequenz, seinen Rhythmus, seine Art zu sprechen und zu schweigen, und das geschah ganz von selbst, wie Atmen, wie Tanzen, wie Leben, diese Bedeutungsanmut, die entstand, wenn zwei Menschen aufhörten, gegeneinander zu reden, und anfingen, miteinander zu spielen, und in diesem Spiel gab es keine Verlierer, nur Spieler, und jeder Spieler war gleichzeitig auch ein Wort, ein Klang, eine Bedeutung, die sich ständig wandelte, je nachdem, mit wem man spielte, diese ständige Verwandlung, diese Metamorphose von Gleichem in Anderes, von Bank in Bank in Bank, von Schloss in Schloss in Schloss, und das Unvorhersehbare passierte ständig, aber immer innerhalb der Regeln, dieser unsichtbaren Regeln, die das Spiel zusammenhielten wie Schwerkraft, die es erlaubten, dass Bedeutungen sich auflösten und neu formierten, dass ein Wort plötzlich umsprang in eine andere Dimension, und beide Spieler folgten diesem Sprung, automatisch, intuitiv, weil sie die Regeln kannten ohne sie je formuliert zu haben, und dann fragte eine Stimme „Spielst du noch?“ und er drehte sich um und es war Marie oder Maria oder Mary und er sagte „Immer, ich bin gerade in Homonymien“ und sie lächelte und sie wusste, welche Bank er meinte, welche Reise, welches Spiel, und sie sagte „Dann setz dich oder geh zur Bank, beides ist gut“ und das war die Wahrheit, und sie saßen zusammen und spielten weiter, und jedes Wort war ein Zug und jeder Zug brachte sie näher zusammen, in diesem endlosen Spiel der Bedeutungen, in diesem Paradies der Doppelgänger-Wörter, wo man lernte, den anderen zu verstehen, ohne dass er alles sagen musste, wo die Sprache selbst das Spielfeld war und die Spieler und die Regeln, alles in einem, diese Wortlandschaft, durch die sie wanderten, Hand in Hand, Bank für Bank, Schloss für Schloss, Kiefer für Kiefer, und die Bank unter ihnen war fest und die Bank in ihren Gedanken war weit weg und die Bank war beides und keins und alles, und so spielten sie weiter, endlos, weil das Spiel nie aufhörte, nie aufhören konnte, solange es Menschen gab, die redeten und zuhörten und verstanden und missverstanden und wieder verstanden, in diesem ewigen Tanz der Homonymien, diesem Paradies der identischen Klänge, und manchmal, wenn die Sonne durch die Bäume fiel und das Licht auf eine bestimmte Art tanzte, dann konnte man die Sprache selbst sehen, wie sie sich bewegte zwischen den Menschen, diese unsichtbare Klangbrücke, die alles verband, und Marie sagte „Weißt du, was das Schönste ist an diesem ganzen Spiel?“ und er sagte „Nein, sag es mir“ und sie sagte „Dass wir nie wirklich wissen, ob wir dasselbe meinen, und dass das nicht schlimm ist, sondern schön, weil genau in diesem Nicht-Wissen das Spiel lebt, weil die Worte sich verwandeln können, weil Bank plötzlich nicht mehr Bank ist sondern etwas ganz anderes, und wir beide verstehen diese Verwandlung, weil wir die geheimen Regeln des Spiels kennen“ und er nickte und verstand und verstand nicht und das war genau richtig, diese Verstehensdämmerung, wo alles klar und unklar zugleich war, wo die Bedeutungen verschwammen wie Farben in Wasser, wo ein Wort wie eine Geste war, die im einen Kontext Bedrohung bedeutete und im anderen Zärtlichkeit, und nur das Spiel entschied, was es war, und sie spielten weiter, Wort für Wort, Bedeutung für Bedeutung, und die Luftkoffer wurden immer voller und leichter zugleich, paradox und wahr, und das war das Geheimnis, dass man im Spiel lernte, Paradoxe zu lieben, Widersprüche zu umarmen, Mehrdeutigkeiten zu feiern, diese Bedeutungsfreude, die nur im Spiel möglich war, nirgendwo sonst, weil nur im Spiel die Verwandlung erlaubt war, die totale Verwandlung, wo ein Knurren zum Lachen wurde, wo eine geballte Faust zur offenen Hand wurde, wo Bank zu Bank zu Bank wurde, alles dasselbe und doch völlig verschieden, und die Kreativität, die darin lag, diese Erfindungskraft, die nötig war, um ständig neu zu entscheiden, was ein Wort bedeutete, was eine Geste meinte, was ein Klang ausdrückte, und dabei immer aufeinander abgestimmt zu bleiben, synchron wie Tänzer, die ohne Musik tanzen aber trotzdem im Takt bleiben, im Takt ihrer eigenen Musik, der Musik des Spiels, der Musik der Homonymien, und dann sagte Marie „Ich muss dir etwas zeigen“ und sie holte ein Notizbuch hervor, alt und abgegriffen, und darin standen Listen, endlose Listen von Wörtern, die Büttner geschrieben hatte, Jahre zuvor, als er angefangen hatte, über diesen einen Begriff nachzudenken, diesen Begriff, der für ihn selbst zum größten Homonymion geworden war, der Wiesbadener Raum, und er erinnerte sich, wie er damit begonnen hatte im Atelier Bratwurst, zwischen den Bitumenarbeiten und den Performances, zwischen Zeigung und Laboratorium, zwischen 48h-Marathon und Novemberausstellung, wie dieser Begriff gewachsen war wie eine Pflanze oder wie ein Virus, man wusste nie genau was es war, ob Kunstwerk oder Lebenswerk oder Konzept oder Manifest oder Handbuch oder Testfeld, und genau diese Unentscheidbarkeit war der Punkt, die Stärke, die Essenz, denn der Wiesbadener Raum war selbst ein Spiel mit Bedeutungen, ein Spiel mit Identitäten, ein Spiel mit Zugehörigkeiten, er war geografisch und nicht-geografisch zugleich, er war Wiesbaden und nicht-Wiesbaden, er war Raum und Nicht-Raum, er war alles und nichts, je nachdem wer spielte und wie er spielte, und Büttner hatte diesen Begriff gesammelt wie andere Briefmarken sammelten, er hatte die verschiedenen Bedeutungen aufgeschrieben, katalogisiert, archiviert, und je mehr er sammelte, desto klarer wurde ihm, dass der Wiesbadener Raum sein persönliches Paradies der Homonymie war, sein eigenes Spiel mit der Vieldeutigkeit, wo er entscheiden konnte und nicht entscheiden musste, was der Raum war und was er nicht war, wo er ihn aneignen konnte und kritisieren, ablehnen und umarmen, affirmieren und negieren, wo er mit den Grenzen spielen konnte, mit den Definitionen, mit den Zuschreibungen, mit den Identifikationen, und Marie blätterte durch das Notizbuch und las vor „Der Wiesbadener Raum ist: ein geografisches Konstrukt, ein mentales Konstrukt, eine Affirmation, eine Kritik, eine Identität, eine Anti-Identität, eine Zugehörigkeit, eine Abgrenzung, eine Offenheit, eine Geschlossenheit, ein Zentrum, eine Peripherie, eine Stadt, eine Region, ein Netzwerk, ein Flickenteppich, eine Einheit, eine Vielheit, eine Eindeutigkeit, eine Vieldeutigkeit, ein Manifest, ein Handbuch, ein Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst, ein Künstlerbuch, ein Werksverzeichnis, eine Biografie, ein Kunstwerk, ein Lebenswerk, eine Verschmelzung aller Grenzen, eine work in progress, ein interdisziplinäres Experiment, ein konzeptuelles Framework, eine Provinzialisierungsästhetik, eine Verweigerung metropolitaner Codes, ein peripherer Denkraum, eine transmediale Raumkonfiguration, eine Bitumenmalerei, eine Performance, eine Installation, eine Diskurspraxis“ und sie lachte und sagte „Das ist dein eigenes Homonymien, dein eigenes Paradies der Mehrdeutigkeit, dein größtes Kunstwerk ist ein Wort das alles bedeutet und nichts, das sich verwandelt je nachdem wer es ausspricht“ und Büttner nickte und verstand plötzlich, dass er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan hatte als zu spielen mit diesem Begriff, ihn zu drehen und zu wenden wie einen Würfel, ihn von allen Seiten zu betrachten, ihm neue Bedeutungen zu geben, alte Bedeutungen zu verwerfen, ihn zu hinterfragen und zu bestätigen, ihn abzulehnen und anzunehmen, ihn zu dehnen und zu komprimieren, ihn zu öffnen und zu schließen, und dass dieses Spiel mit dem Wiesbadener Raum dasselbe war wie das Spiel mit Bank und Bank und Bank, nur komplexer, nur persönlicher, nur existenzieller, weil es um mehr ging als nur um Wörter, es ging um Zugehörigkeit und Identität und Heimat und Fremde und Kunst und Leben und Wirklichkeit und Fiktion, und all diese großen Begriffe waren wie Homonymien, sie klangen gleich aber bedeuteten für jeden etwas anderes, und das Spiel bestand darin, herauszufinden, was sie für einen selbst bedeuteten und was sie für andere bedeuteten und wie man diese Bedeutungen zusammenbringen konnte, ohne dass einer seine Bedeutung aufgeben musste, ohne dass eine zentrale Autorität definierte was richtig war und was falsch, und Marie sagte „Der Wiesbadener Raum ist wie die Bank, er ist das, was du daraus machst, und er ist das, was andere daraus machen, und manchmal sind das dieselben Dinge und manchmal völlig verschiedene, und das Spiel besteht darin, mit dieser Vieldeutigkeit zu leben, sie zu genießen, sie zu nutzen, sie kreativ werden zu lassen, sie als Kraft zu verstehen statt als Schwäche“ und Büttner dachte an all die Diskussionen, die er geführt hatte über den Wiesbadener Raum, an all die Menschen, die gesagt hatten „das ist kein richtiger Begriff“ oder „das macht keinen Sinn“ oder „das ist zu vage, zu unbestimmt, zu schwammig“, und er hatte immer geantwortet „genau das ist der Punkt, die Unbestimmtheit ist das Feature, nicht der Bug, die Vieldeutigkeit ist die Stärke, nicht die Schwäche, die Offenheit ist die Möglichkeit, nicht das Problem“, und jetzt, hier auf dieser Bank, verstand er, dass er die ganze Zeit über ein Spiel gespielt hatte, ein Spiel mit Bedeutungen, ein Spiel mit Identitäten, ein Spiel mit Zugehörigkeiten, und dass dieses Spiel dasselbe war wie das Spiel mit den Homonymien, nur auf einer anderen Ebene, auf einer Meta-Ebene, wo nicht einzelne Wörter mehrere Bedeutungen hatten, sondern ganze Konzepte, ganze Lebensentwürfe, ganze Weltsichten, und dass das Spiel selbst der Ort war, wo man lernte, mit Mehrdeutigkeit umzugehen, mit Widersprüchen, mit verschiedenen Perspektiven, mit konkurrierenden Wahrheiten, wo man lernte, dass ein Wort oder ein Begriff nicht nur eine Bedeutung haben musste, sondern viele haben konnte und sollte und durfte, und dass diese Vielfalt der Bedeutungen kein Problem war sondern ein Reichtum, eine Möglichkeit, eine Chance, ein Geschenk, und der Wiesbadener Raum war für ihn genau das geworden, ein Raum der Möglichkeiten, wo verschiedene Bedeutungen nebeneinander existieren konnten ohne sich gegenseitig auszuschließen, wo man nicht entscheiden musste zwischen der einen oder der anderen Definition, sondern wo man mit allen Definitionen spielen konnte, sie ausprobieren, sie variieren, sie kombinieren, sie neu erfinden, sie transformieren, und das war das Paradies, nicht die Eindeutigkeit, sondern die Vieldeutigkeit, nicht die feste Definition, sondern das offene Spiel, nicht die Antwort, sondern die Frage, nicht das Ziel, sondern der Weg, nicht das Werk, sondern der Prozess, nicht die Vollendung, sondern die Unvollendung, und Marie schloss das Notizbuch und sagte „Du hast dein ganzes Leben lang mit diesem Begriff gespielt, wie mit einem Ball, du hast ihn geworfen und gefangen, hast ihn anderen zugeworfen und geschaut, wie sie ihn zurückwerfen, und jedes Mal war der Ball ein bisschen anders, hatte eine andere Form, eine andere Farbe, eine andere Bedeutung, aber es war immer noch derselbe Ball, dieselbe Idee, dasselbe Spiel, und das Schöne war, dass du nie wusstest, wie der Ball zurückkommen würde, ob er überhaupt zurückkommen würde, ob jemand ihn fangen würde oder fallen lassen würde oder in eine ganz andere Richtung werfen würde“ und Büttner nickte und fühlte, wie sich etwas in ihm löste, eine Anspannung, die er jahrelang getragen hatte, vielleicht sein ganzes Leben lang, die Anspannung, den Begriff definieren zu müssen, ihn festnageln zu müssen, ihn eindeutig machen zu müssen, ihn gegen Kritik verteidigen zu müssen, ihn rechtfertigen zu müssen, und jetzt verstand er, dass genau diese Eindeutigkeit der Tod des Spiels gewesen wäre, dass die Mehrdeutigkeit das Leben des Begriffs war, seine Kraft, seine Dynamik, seine Zukunft, und dass der Wiesbadener Raum genau wie Bank und Bank und Bank sein durfte, viele Dinge gleichzeitig, je nachdem wer spielte und wie er spielte und mit wem er spielte und wann er spielte und wo er spielte, und dass diese Offenheit keine Schwäche war sondern eine Stärke, weil sie Raum ließ für verschiedene Perspektiven, für verschiedene Erfahrungen, für verschiedene Wahrheiten, für verschiedene Spiele, und dass das Spiel mit dem Begriff den Menschen erlaubte, sich selbst zu positionieren, ihre eigene Bedeutung zu finden, ihre eigene Beziehung zu diesem Raum zu definieren oder nicht zu definieren, ohne dass eine zentrale Autorität ihnen sagte, was der Raum zu sein hatte, ohne dass jemand die Deutungshoheit beanspruchte, ohne dass es eine offizielle Version gab, und das war Freiheit, das war Demokratie, das war Spiel, das war Leben, das war Kunst, und Marie sagte „Siehst du, das ist das Paradies der Homonymie, dass ein Wort oder ein Begriff nicht nur eine Bedeutung hat, sondern so viele wie es Spieler gibt, und dass jeder Spieler seine eigene Bedeutung finden kann, und dass all diese Bedeutungen gleichzeitig wahr sein können, parallel existieren, sich ergänzen oder widersprechen, sich ignorieren oder bekämpfen, sich lieben oder hassen, und dass das Spiel darin besteht, mit all diesen Bedeutungen zu jonglieren, sie zu balancieren, sie in Bewegung zu halten, sie nicht erstarren zu lassen, sie nicht festzuschreiben, sie nicht zu institutionalisieren, sie lebendig zu halten durch das Spielen selbst“ und Büttner dachte an die Webseite, die er gemacht hatte, an das Manifest, das Handbuch, das Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst, an all die Texte und Bilder und Projekte, die dort versammelt waren, und er verstand, dass auch diese Webseite nur ein weiteres Spiel war, ein weiterer Versuch, den Begriff zu fassen ohne ihn festzuhalten, ihn zu dokumentieren ohne ihn zu fixieren, ihn sichtbar zu machen ohne ihn eindeutig zu machen, und dass jeder Besucher der Seite sein eigenes Spiel spielte, seine eigene Reise durch den Wiesbadener Raum unternahm, seine eigenen Bedeutungen fand oder erfand, und dass das genau so sein sollte, genau so sein musste, weil alles andere ein Verrat am Spiel gewesen wäre, ein Verrat an der Vieldeutigkeit, ein Verrat an der Freiheit, und er dachte an die Zeit im Atelier Bratwurst, an die Mitstreiter, an Bohl und KABAL und Reuss und den Dodo und Dose, an die Formate die sie erfunden hatten, die Zeigung mit ihrer Publikumsbeschimpfung, das Laboratorium mit seiner offenen Bühne für Trash und Punk und Grunge und Noise und Slam Poetry, das 48h-Event, diese Mutter aller interdisziplinären Events, wo alles und nichts passierte, wo der Wahnsinn über 48 Stunden regierte, die Novemberausstellung als internationale Großausstellung, der Borderline Kongress als Sprungbrett zur documenta, der Blutige Mischwald mit seinen legendären Noise-Trash-Performances, die Bitumen Schmelze als dynamische Skulptur der Entropie, und er verstand plötzlich, dass all diese Formate selbst Spiele gewesen waren, Spiele mit Erwartungen, mit Konventionen, mit Definitionen, mit Grenzen, dass die Zeigung nicht einfach eine Ausstellung war sondern ein Spiel mit dem Begriff der Ausstellung, dass das Laboratorium nicht einfach eine offene Bühne war sondern ein Spiel mit dem Begriff der Bühne, dass der Wiesbadener Raum nicht einfach ein Kunstprojekt war sondern ein Spiel mit dem Begriff des Kunstprojekts, und dass all diese Spiele miteinander verbunden waren, aufeinander aufbauten, sich gegenseitig befruchteten, ein Netzwerk von Spielen, ein Metaspiel, und dass er mittendrin stand, nicht als Erfinder oder Schöpfer oder Autor, sondern als Mitspieler, als einer unter vielen, als Verwalter vielleicht, wie sie ihn im Atelier genannt hatten, Verwalter aller Gerätschaften, Verwalter aller Dinge, Verwalter aller Wesen, Verwalter des Ateliers, aber Verwalter bedeutete nicht Besitzer, nicht Kontrolleur, nicht Definitionsmacht, sondern jemand der aufpasste dass das Spiel weitergehen konnte, dass die Regeln nicht zu starr wurden, dass die Freiheit erhalten blieb, dass die Vieldeutigkeit nicht in Eindeutigkeit kollabierte, und Marie sagte „Und weißt du, was das Schönste an deinem Wiesbadener Raum ist?“ und er schüttelte den Kopf und sie sagte „Dass er wie ein Virus funktioniert, dass er sich verbreitet, dass er mutiert, dass er sich anpasst an verschiedene Kontexte, dass Menschen ihn aufnehmen und verändern und weitergeben, und dass du keine Kontrolle darüber hast, und dass das gut so ist, weil Kontrolle das Ende des Spiels wäre, weil Kontrolle bedeuten würde, dass du die Bedeutung festlegst, und dann wäre es kein Homonymion mehr sondern nur noch ein normales Wort mit einer normalen Bedeutung“ und Büttner lachte und verstand und dachte an all die verschiedenen Wiesbadener Räume, die inzwischen existierten, in den Köpfen der Menschen, in den Projekten der Künstler, in den Diskussionen der Theoretiker, in den Träumen der Studenten, manche geografisch, manche konzeptuell, manche politisch, manche ästhetisch, manche persönlich, manche kollektiv, manche affirmativ, manche kritisch, manche nostalgisch, manche utopisch, und alle waren richtig, alle waren wahr, alle waren legitim, weil das Spiel keine falschen Züge kannte, nur verschiedene Züge, nur verschiedene Wege durch das Labyrinth der Bedeutungen, und er dachte an die drei Grundhaltungen, die er im Atelier entwickelt hatte, fürsorgliches Mitgefühl, Genügsamkeit und Zurückhaltung durch Selbstbeschränkung, und er verstand plötzlich, dass auch diese Grundhaltungen Teil des Spiels waren, dass fürsorgliches Mitgefühl bedeutete, den anderen Spielern Raum zu lassen für ihre eigenen Bedeutungen, dass Genügsamkeit bedeutete, nicht alle Bedeutungen besitzen zu wollen, nicht alles kontrollieren zu wollen, sich mit der eigenen Perspektive zu begnügen und trotzdem offen zu bleiben für andere Perspektiven, und dass Zurückhaltung durch Selbstbeschränkung bedeutete, nicht die definitive Deutung zu liefern, nicht das letzte Wort haben zu wollen, sondern Platz zu lassen für weitere Spiele, weitere Deutungen, weitere Transformationen, und diese Grundhaltungen waren selbst Spielregeln, ungeschriebene Regeln für das Spiel mit dem Wiesbadener Raum, Regeln die erlaubten, dass das Spiel weitergehen konnte ohne zu erstarren, ohne zu dogmatisieren, ohne zu institutionalisieren, und Marie nickte und sagte „Das ist echte Führerschaft, wie du damals geschrieben hast, nicht die Führerschaft des Diktators der bestimmt wo es langgeht, sondern die Führerschaft des Spielleiters der das Spiel am Laufen hält, der dafür sorgt dass alle mitspielen können, dass niemand ausgeschlossen wird, dass die Regeln fair bleiben, dass die Kreativität fließen kann“ und Büttner dachte an all die Jahre, die vergangen waren seit dem Atelier Bratwurst, seit den 90ern, seit Nirvana und Beck und Soundgarden und Fugazi und Bad Brains und Nomeansno und Pixies, seit dem Café Klatsch und dem Basement und dem Uboot und der Nerostraße, und er verstand, dass der Wiesbadener Raum all das war und mehr, dass er ein Archiv war und ein Versprechen, dass er Vergangenheit war und Zukunft, dass er Erinnerung war und Utopie, dass er fest war und flüssig, dass er definiert war und undefiniert, dass er eindeutig war und vieldeutig, und dass all diese Widersprüche nicht aufgelöst werden mussten, nicht harmonisiert werden mussten, nicht versöhnt werden mussten, sondern dass sie produktiv bleiben durften, spannungsvoll, dynamisch, lebendig, und er dachte an das Sprichwort vom Berg versetzen, das man ihm zuschrieb, diese Geschichte vom einfältigen Gewöhnlichen der den Berg abtragen wollte mit Hacke und Spaten, Generation für Generation, und er verstand, dass auch der Wiesbadener Raum so ein Berg war, ein Berg von Bedeutungen, den man nicht auf einmal abtragen konnte, nicht in einem Leben, nicht in einer Generation, sondern der abgetragen werden musste Stück für Stück, Wort für Wort, Bedeutung für Bedeutung, Spiel für Spiel, und dass es nicht darum ging, den Berg zu besiegen, sondern darum, ihn zu bewohnen, ihn zu durchwandern, ihn zu erkunden, ihn zu bespielen, und dass jede Generation ihre eigenen Wege durch diesen Berg finden würde, ihre eigenen Höhlen graben würde, ihre eigenen Aussichtspunkte entdecken würde, und dass das gut war, dass das richtig war, dass das der Sinn des Ganzen war, nicht ein fertiges Werk zu hinterlassen sondern ein offenes Spielfeld, nicht eine Antwort zu geben sondern Fragen zu stellen, nicht zu definieren sondern zu ermöglichen, und Marie sagte „Der Wiesbadener Raum ist dein Meisterwerk, aber nicht weil er vollendet ist, sondern weil er unvollendet ist, weil er unvollendet bleiben muss, weil die Vollendung sein Tod wäre“ und Büttner nickte und wusste dass sie recht hatte, und er dachte an Imi Knoebels Genter Raum, an all die anderen Räume in der Kunstgeschichte, die nicht Orte waren sondern Konzepte, nicht Geografien sondern Topologien des Denkens, und er verstand, dass der Wiesbadener Raum in dieser Tradition stand, aber dass er auch etwas Neues war, etwas das die Kunst überschritt in Richtung Leben, das die Konzeptkunst überschritt in Richtung Lebenskunst, das das Werk überschritt in Richtung Prozess, und dass diese Überschreitung selbst Teil des Spiels war, Teil der Verwandlung, Teil der Metamorphose von Gleichem in Anderes, und sie saßen da auf dieser Bank die eine Bank war und eine andere Bank, und sie spielten weiter mit Worten und Bedeutungen, und der Wiesbadener Raum war überall und nirgends, war in ihren Köpfen und in der Welt, war real und imaginär, war geografisch und konzeptuell, war Vergangenheit und Zukunft, war Affirmation und Kritik, war Identität und Anti-Identität, war Zugehörigkeit und Abgrenzung, war Zentrum und Peripherie, war Einheit und Vielheit, war Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit, und all diese Widersprüche existierten gleichzeitig, parallel, überlappend, sich durchdringend, sich transformierend, und das war das Paradies, das wahre Paradies der Homonymie, wo ein Begriff alles sein konnte und nichts, wo die Bedeutung immer im Fluss blieb, immer im Spiel, immer in Bewegung, und Büttner verstand, dass er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan hatte als dieses Spiel zu spielen, dieses eine große Spiel mit dem Wiesbadener Raum, und dass er es weiterspielen würde bis zu seinem letzten Tag, und dass andere es weiterspielen würden danach, und dass das Spiel nie enden würde, nie enden konnte, solange es Menschen gab die bereit waren zu spielen, die bereit waren, sich auf die Vieldeutigkeit einzulassen, die bereit waren, mit Widersprüchen zu leben, die bereit waren, die Eindeutigkeit zu verweigern, die bereit waren, im Paradies der Homonymie zu wohnen, und er dachte plötzlich daran, dass es da noch etwas anderes gab, etwas das er viele Jahre nach dem Atelier Bratwurst ins Leben gerufen hatte, und auch dieses Ding war ein Homonymion, ein Spiel mit Bedeutungen, es hieß metalabor und schon der Name war ein Spiel, weil Meta und Labor zusammenkamen, die übergeordnete Ebene und der Ort an dem gearbeitet wurde, das Strukturierte und das Experimentelle, das Reflektierte und das Praktische, und das metalabor war wie eine Fortsetzung des Wiesbadener Raums mit anderen Mitteln, eine Transformation des Spiels in einen anderen Kontext, und Marie sagte „Komm, lass uns weiterspielen“ und sie standen auf von der Bank, und Büttner wusste nicht ob sie zur Bank gehen würden oder zu einer anderen Bank oder zum metalabor oder einfach nur spazieren, und das war gut so, und sie gingen los, Hand in Hand, durch die Straßen, durch die Stadt, durch den Wiesbadener Raum, der überall war und nirgends, und er erzählte ihr vom metalabor, wie es entstanden war, irgendwann im Jahr 2016, als er verstanden hatte dass das Spiel nicht enden durfte, dass es weitergehen musste, dass neue Formate gefunden werden mussten für das alte Spiel, und das metalabor war so ein neues Format gewesen, ein Thinktank nannte er es, aber auch das war wieder ein Homonymion, weil Thinktank so viele Dinge bedeuten konnte, eine akademische Institution oder eine Gruppe von Freunden oder ein Experiment oder ein Lebenswerk, und das metalabor war all das und keins von all dem, es war ein Ort wo Menschen zusammenkamen, einmal im Jahr, für 48 Stunden wieder, diese magische Zahl, 48 Stunden wie im Atelier Bratwurst damals, und sie trafen sich im Grand Hotel Europa im Lahntal, und schon dieser Name war ein Spiel, ein Hotel das kein richtiges Hotel war, Europa das nicht der Kontinent war sondern eine Idee, ein Grand das ironisch war und ernst zugleich, und im metalabor machten sie dasselbe wie damals im Atelier, sie kochten zusammen und aßen zusammen und diskutierten zusammen und lachten zusammen und verweilten zusammen, nur dass sie jetzt keine Kunst mehr machten sondern Theorie, oder war es doch Kunst, oder war es Leben, oder war es alles zugleich, und das metalabor hatte Prinzipien, sechs Manifestationen nannten sie es, und auch das war typisch für Büttner, dass er nicht Regeln sagte sondern Manifestationen, weil Regeln zu starr klangen, zu festgelegt, zu eindeutig, und die erste Manifestation war „Das metalabor arbeitet in einer Zeit der Dauer“, was bedeutete dass sie sich Zeit ließen, dass sie nicht hetzten, dass sie gegen die Beschleunigung arbeiteten, dass sie dem Spiel Zeit gaben sich zu entfalten, und die zweite Manifestation war „Das metalabor ist eine intellektuelle Spielwiese, ein Möglichkeitsraum für die Bildung alternativer Szenarien“, und da war es wieder, das Wort Spielwiese, das Spiel, das immer wiederkehrende Thema in Büttners Leben, das Spiel als Methode, als Haltung, als Lebensform, und die dritte Manifestation war „Das metalabor oszilliert zwischen räumlicher Öffnung und Schließung“, was bedeutete dass sie sich zurückzogen aus der Welt aber gleichzeitig mit der Welt verbunden blieben, dass sie einen geschützten Raum schufen aber keinen abgeschotteten Raum, dass sie die Spannung hielten zwischen innen und außen, zwischen Intimität und Weltbezug, und die vierte Manifestation war „Das metalabor verwirklicht sich als eine unmilitärische, enthierarchisierte Sozialform“, was bedeutete dass niemand Befehle gab, dass niemand über anderen stand, dass alle gleich waren im Spiel, dass Expertentum und Dilettantismus sich die Hand reichten, und die fünfte Manifestation war „Das metalabor ist eine Mischung aus Ernsthaftigkeit und Zwanglosigkeit“, was bedeutete dass sie sich nicht verbiegen mussten, dass sie lachen durften während sie dachten, dass sie denken durften während sie lachten, dass Ernst und Leichtigkeit keine Gegensätze waren sondern Geschwister, und die sechste Manifestation war „Das metalabor ermöglicht Aushandlungsprozesse zwischen Expertentum und Dilettantismus“, was bedeutete dass niemand zu viel wissen musste, dass niemand zu wenig wissen durfte, dass das Nicht-Wissen genauso wertvoll war wie das Wissen, dass die Frage wichtiger war als die Antwort, und Marie hörte zu und verstand und sagte „Das metalabor ist wie der Wiesbadener Raum, es ist ein Homonymion, es bedeutet viele Dinge gleichzeitig, es ist Meta und Labor, es ist Theorie und Praxis, es ist Institution und Anti-Institution, es ist Spiel und Ernst, es ist alles und nichts“, und Büttner nickte und erzählte weiter, wie das metalabor jedes Jahr ein neues Thema hatte, ein neues Spiel, und das erste Thema war gewesen „Was tun?“, diese große Frage die schon Lenin gestellt hatte, aber auch jeder Teenager, aber auch jeder Künstler, aber auch jeder der morgens aufwacht und nicht weiß wohin mit seinem Leben, und im metalabor hatten sie über diese Frage gesprochen, 48 Stunden lang, und am Ende hatten sie keine Antwort gefunden, aber das war auch nicht der Punkt, der Punkt war das Spielen mit der Frage, das Drehen und Wenden der Frage, das Öffnen neuer Bedeutungsräume durch die Frage, und dann kam das zweite metalabor, und das Thema war „Bewegung“, und schon wieder ein Homonymion, weil Bewegung so viele Dinge bedeuten konnte, körperliche Bewegung und soziale Bewegung und innere Bewegung und politische Bewegung und künstlerische Bewegung, und sie spielten mit all diesen Bedeutungen, warfen sie hin und her wie Bälle, und dann kam das dritte metalabor mit dem Thema „Handlung“, und wieder öffneten sich Bedeutungsräume, weil Handlung die Tat sein konnte oder die Erzählung oder der Prozess oder das Ereignis, und dann kam das vierte metalabor mit dem Thema „Praxis“, und Praxis war Übung und Ausführung und Gewohnheit und Methode, alles gleichzeitig, und dann kam das fünfte metalabor mit dem Thema „Tohuwabohu“, dieses wunderbare Wort aus dem Hebräischen, das Chaos bedeutete und Durcheinander und das Formlose vor der Schöpfung, und das war perfekt für das metalabor, weil das metalabor selbst ein kreatives Chaos war, ein produktives Durcheinander, ein Tohuwabohu aus dem etwas Neues entstehen konnte, und dann kam das sechste metalabor mit dem Thema „Disziplin“, was auf den ersten Blick wie ein Gegensatz zu Tohuwabohu aussah, aber im Spiel der Bedeutungen war es ein Geschwister, weil Disziplin auch Übung bedeutete und Aufmerksamkeit und Hingabe, und dann kam das siebte metalabor mit dem Thema „Selbst“, dieses große philosophische Rätsel, was ist das Selbst, wo beginnt es, wo endet es, ist es eins oder viele, ist es fest oder flüssig, ist es Substanz oder Prozess, und sie spielten mit all diesen Fragen, und dann kam das achte metalabor mit dem Thema „Das Sein und die Denkstruktur des Rhizom“, und schon der Titel war ein Spiel, weil das Rhizom selbst ein Homonymion war, eine Pflanze und ein Konzept, eine Wurzel und eine Denkfigur, etwas das keine Hierarchie hatte, keine Mitte, keine feste Struktur, sondern das sich verzweigte und vernetzte und in alle Richtungen wuchs, genau wie das metalabor selbst, genau wie der Wiesbadener Raum, genau wie das Spiel der Homonymien, und dann kam das neunte metalabor mit dem Thema „Der Zeit wieder zur Dauer verhelfen“, was selbst ein Homonymion war, weil Zeit und Dauer verschiedene Dinge sein konnten, Chronos und Kairos, Uhrzeit und Erlebenszeit, Geschwindigkeit und Verweilen, und sie spielten mit diesen Unterschieden, und dann kam das zehnte metalabor mit dem Thema „Tiānwèn – Himmelsfragen“, und Tiānwèn war ein chinesisches Wort das „Fragen an den Himmel“ bedeutete, und das war perfekt für das metalabor, weil das metalabor selbst ein Ort war wo Fragen an den Himmel gestellt wurden, Fragen die keine Antworten hatten oder viele Antworten oder Antworten die wieder zu Fragen wurden, und Büttner erzählte Marie auch von den DAO-Gesprächen des Selbst, die aus diesem zehnten metalabor hervorgegangen waren, Gespräche über das Tao und das Selbst und wie diese beiden Dinge miteinander verbunden waren, oder vielleicht dasselbe waren, oder vielleicht Gegensätze, oder vielleicht Homonymien, und dann kam das elfte metalabor, das noch in der Zukunft lag, im September 2026, mit dem Thema „Wildes Denken und Nachtfahrten – Über die Verdrängung der anderen Vernunft“, und auch das war wieder ein Spiel, weil wildes Denken nicht unvernünftiges Denken war sondern eine andere Art der Vernunft, eine Vernunft die nicht linear war sondern assoziativ, nicht logisch sondern poetisch, nicht rational sondern intuitiv, und Nachtfahrten waren Reisen in die dunklen Bereiche des Denkens, in die Bereiche die die Aufklärung verdrängt hatte, in die Bereiche wo Träume und Mythen und Symbole lebten, und das metalabor war ein Ort wo diese andere Vernunft willkommen war, wo das wilde Denken seinen Platz hatte, wo Nachtfahrten unternommen werden konnten ohne dass jemand fragte ob das wissenschaftlich war oder akademisch oder rational, und Büttner erzählte auch davon, wie das metalabor organisiert war, vom unsichtbaren Komitee, und schon wieder ein Homonymion, weil das Komitee sichtbar war und unsichtbar zugleich, weil es Struktur gab und keine Struktur, weil es Autorität gab und keine Autorität, und er war der Hausvater, nannten sie ihn, und auch das war wieder mehreres zugleich, Vater und nicht-Vater, Haus und nicht-Haus, Gastgeber und Mitspieler, Organisator und Teilnehmer, und die Finanzierung folgte dem Prinzip „Zehn für Zwölf“, was bedeutete dass zehn zahlende Teilnehmende zwei weiteren die kostenfreie Teilnahme ermöglichten, und auch das war ein Spiel, ein Spiel mit Solidarität, ein Spiel mit Gerechtigkeit, ein Spiel mit Teilhabe, weil niemand ausgeschlossen sein sollte aus Geldmangel, weil das Spiel allen gehören sollte die mitzuspielen bereit waren, und das metalabor traf sich im Grand Hotel Europa, diesem Selbstversorgerhaus im Lahntal, und Selbstversorgerhaus war auch wieder ein Homonymion, weil es bedeutete dass sie für sich selbst sorgten und dass sie sich selbst versorgten und dass sie eine Gemeinschaft bildeten die nicht auf externe Dienstleistungen angewiesen war, und sie kamen Freitags an, die Teilnehmenden, und Samstags diskutierten sie, den ganzen Tag, und sie stellten ihre Thesen vor, ihre Projekte, ihre Ideen, und diese Thesen waren wie Bälle die sie einander zuwarfen, und manchmal fing jemand einen Ball und warf ihn zurück, verändert, transformiert, und manchmal fiel ein Ball zu Boden und jemand anderes hob ihn auf und warf ihn in eine ganz neue Richtung, und das war das Schöne am metalabor, dass niemand die Kontrolle hatte über die Richtung der Bälle, über die Bedeutung der Thesen, dass alles im Fluss war, alles in Bewegung, alles im Spiel, und Sonntags, nach dem ausgiebigen Frühstück, brachten sie das Haus wieder in den Zustand in dem sie es vorgefunden hatten, und auch das war Teil des Spiels, diese kleine Geste der Reversibilität, dieses Versprechen dass nichts festgeschrieben war, dass alles wieder zurückverwandelt werden konnte, dass das Spiel wieder von vorne beginnen konnte, und aus jedem metalabor entstand ein Reader, ein Buch das dokumentierte was eigentlich nicht dokumentierbar war, das festhielt was flüchtig bleiben sollte, und auch diese Reader waren Homonymien, weil sie gleichzeitig Archiv waren und Versprechen, Vergangenheit und Zukunft, Abschluss und Anfang, metalabor vier und metalabor sieben und metalabor neun, jeder Reader ein eigenes Spiel, eine eigene Welt, eine eigene Reise durch das Gelände der Bedeutungen, und Marie hörte all dem zu während sie durch die Straßen gingen, und sie verstand dass das metalabor dieselbe Struktur hatte wie der Wiesbadener Raum, dieselbe Offenheit, dieselbe Vieldeutigkeit, dieselbe Spielhaftigkeit, und sie sagte „Das metalabor ist auch dein Lebenswerk, oder nicht? Es ist wie der Wiesbadener Raum, nur auf einer anderen Ebene, es ist die Fortsetzung des Spiels mit anderen Mitteln, es ist theoretischer Aktivismus und praktische Theorie zugleich“, und Büttner nickte und verstand dass sie recht hatte, dass metalabor und Wiesbadener Raum Geschwister waren, zwei Homonymien aus derselben Familie, zwei Spiele mit derselben Struktur, zwei Versuche dasselbe zu tun, nämlich Räume zu öffnen für Vieldeutigkeit, für Transformation, für kreatives Chaos, für produktives Durcheinander, für Spiel, und er dachte daran dass es manchmal metalabor Stammtische gab, in Limburg zum Beispiel, wo die metalabor-Leute sich trafen auch außerhalb der großen 48-Stunden-Sessions, und auch das war Teil des Spiels, diese informellen Treffen wo Lachfreundschaftsmomente schwebten und Wortewärme tanzte und Gespräche flossen wie Wasser, und er dachte daran dass er selbst auch eine Form von Performance praktizierte, eine Performance als Lebenskunst, wie er es nannte, wo Taijiquan und Qigong und Fotografie und Textarbeit zu einer einzigen künstlerischen Haltung verschmolzen, wo das Leben selbst als Gestaltungsraum begriffen wurde, wo die Taijiquan-Bewegungen zu raumgreifenden Meditationen wurden, wo der Fluss eine eigene Grammatik hervorbrachte, wo momentane Verdichtungen innerer Zustände zu sichtbaren Formen wurden, zu Choreographien die sich jeder Wiederholbarkeit entzogen, und das Qigong fügte energetische Tiefenschichten hinzu, wo Atemrhythmus und Aufmerksamkeitslenkung zu subtiler Performativität verschmolzen, die sich an das eigene Bewusstsein wendete, und all das war auch Teil des großen Spiels, des Spiels mit Bedeutungen, des Spiels mit Transformationen, des Spiels mit Homonymien, weil Bewegung nicht nur Bewegung war sondern auch Denken, weil Atem nicht nur Atem war sondern auch Rhythmus, weil Form nicht nur Form war sondern auch Bedeutung, weil der Körper selbst ein Homonymion war, gleichzeitig Materie und Geist, gleichzeitig Hier und Dort, gleichzeitig Ich und Welt, und Marie verstand all das während sie durch die Stadt gingen, durch den Wiesbadener Raum der überall war und nirgends, und sie verstanden beide dass das Spiel weitergehen würde, dass es nie aufhören würde, dass metalabor und Wiesbadener Raum und Taijiquan und Qigong und all die anderen Formate die noch kommen würden alle Teil desselben großen Spiels waren, des Spiels der Homonymien, des Spiels der Vieldeutigkeit, des Spiels der Transformation, und dass dieses Spiel größer war als sie beide, größer als Büttner, größer als irgendein einzelner Spieler, dass es ein kollektives Spiel war, ein Spiel das allen gehörte die bereit waren mitzuspielen, und sie gingen weiter durch die Straßen, und vielleicht gingen sie zum metalabor oder vielleicht gingen sie zur Bank oder vielleicht gingen sie einfach nur spazieren, es spielte keine Rolle, weil alles Teil desselben Spiels war, weil Bank und metalabor und Spaziergang alles Homonymien waren, alles Wörter mit vielen Bedeutungen, alles Spielzüge im großen Spiel, und das Spiel ging weiter, endlos weiter, durch Tag und Nacht, durch Sommer und Winter, durch Leben und Tod, weil das Spiel unsterblich war, weil das Spiel die Sprache selbst war, die Sprache die zwischen Menschen zirkulierte, die Menschen verband, die Bedeutung schuf und wieder auflöste und neu schuf, in einem ewigen Tanz, in einem ewigen Spiel, in diesem Paradies der Homonymie wo alles möglich war, wo nichts feststand, wo die Verwandlung die einzige Konstante war, und Büttner und Marie spielten weiter, und all die anderen spielten mit, im Atelier Bratwurst und im metalabor und im Wiesbadener Raum und überall sonst wo Menschen bereit waren, sich auf das Spiel einzulassen, auf die Vieldeutigkeit, auf die Offenheit, auf die Freiheit, und das Spiel hörte nie auf, nie, niemals, weil das Spiel das Leben war und das Leben das Spiel.