Durch viele Gestalten gehen

Sascha Büttner und die Morphologie des Künstlersubjekts

Sascha Büttner wusste, dass man durch viele Gestalten gehen müsse, um seine passende Form zu finden. Diese Einsicht, die sich durch sein gesamtes Werk zieht, offenbart eine künstlerische Praxis, die schamanentumliche Erkenntnismethoden radikal säkularisiert – befreit von esoterischem Ballast wie völkischer Mystik.

Die Donaufahrt als Initiationsreise

Das romanhafte Material zu Büttner zeichnet seine Donaufahrt als schamanentumliche Initiationsreise: ein bio-digitaler Schamane in Ausbildung, der lernt, zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen zu navigieren. Kampmann, der ewige Psychopomp, führt ihn durch Passagen, wo „Inn Ilz Donau verschmelzen wie Chakren sich öffnend“ – eine Topographie, die physische Geographie mit spiritueller Kartographie verschmilzt und eine Bewusstseinsgeometrieentstehen lässt, die Raum und Geist untrennbar verkoppelt.

Was zunächst wie techno-mystische Phantasmagorie erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als radikale Dekonstruktion schamanentumlicher Traditionen. Büttner transformiert die schamanische Trance – traditionell induziert durch Trommel, Tanz, Substanzen – in Erkenntnismethoden, die ohne irrationale Grundlagen auskommen. Seine „digitalen Ayahuasca“, seine „virtuellen Kommunionsbrote“ sind Platzhalter für systematische Selbstentfremdung als epistemologische Strategie, eine Identitätstransgression, die Subjektgrenzen durchlässig macht.

Aneignung als schamanentumliches Gestaltwandeln

Die dokumentierte Praxis Büttners – „er schreibt die Biografien um, taucht in das fremde Leben ein und inszeniert sich als der Fremde“ – operiert präzise nach schamanentumlichen Mustern des Gestaltwandelns. Der Schamane wird zum Bären, zum Adler, zum Geist; Büttner wird zu anderen Künstlern, zu anderen Epochen, zu anderen Denkformen. Das Prinzip bleibt identisch: Erkenntnisgewinn durch temporäre Aufgabe der eigenen Identität, eine Subjektmigration, die zwischen biografischen Territorien pendelt.

„Kleidet sich wie der Fremde, spricht wie der Fremde, gestikuliert wie der Fremde, handelt wie der Fremde, denkt wie der Fremde“ – diese radikale Mimesis generiert Wissen, das der stabilen Subjektposition unzugänglich bliebe. Büttner praktiziert eine Form des method acting als Erkenntnistheorie, bei der die Grenze zwischen Performance und ontologischer Transformation strategisch unscharf gehalten wird. Seine Rollenpermeabilität macht die Künstlerpersona durchlässig für fremde Existenzweisen.

Taijiquan als Selbstheilungsgeste

Seit über 25 Jahren praktiziert Büttner Taijiquan und Qigong – Kernbestandteile seiner schamanentumlichen Methodik. Die langsamen Bewegungsformen des Taijiquan funktionieren als körperliche Meditation, die das cartesianische Subjekt-Objekt-Schema unterläuft. Der Körper wird zum Erkenntnismedium, das anders wahrnimmt als der diskursive Intellekt, eine Somatoepisteme, die Wissen durch leibliche Vollzüge erschließt.

Die „heilende Geste“ des Taijiquan materialisiert sich in Büttners Werk mehrfach: als bewusstes Trinken im Café („Ein Schluck alle 30 Sekunden. Bewusstes Trinken. Jeder Schluck ein kleines Ereignis“), als meditative Präsenz („Tee als Zeitgeber: Bestimmt das Tempo. Die Dauer. Den Rhythmus des Moments“), als Wu Wei – „Handeln ohne Handeln. Tun ohne Zwang.“ Diese Mikroritualistik des Alltags transformiert banale Verrichtungen in Meditationsgelegenheiten.

Erzählung als transformative Medizin

Schamanentumliche Heilung operiert zentral über Narration – die Krankengeschichte wird umerzählt, das Subjekt repositioniert sich im kosmischen Gefüge. Büttners literarische Praxis übersetzt dieses Prinzip in säkulare Form. Seine Erzählungen – ob im Metalabor entstanden oder während der „Chautauqua am Mirror Lake“ – praktizieren narrative Heilung ohne spirituelle Überhöhung, eine Narratotherapie, die Geschichten als Instrumente psychischer Transformation begreift.

„Ich erzähle Geschichten und meditiere und fühle meinem Atem nach“ – Erzählen erscheint hier als somatische Praxis, die Körper, Bewusstsein und Sprache synchronisiert. Die Geschichte vom Neugeborenen, das „ganz leise, durch alles Dröhnen dieser Welt“ schreit, funktioniert als Moment kollektiver Heilung: „ich fühle in diesem Moment das Glück des Babys und der Frau.“ Büttner entwickelt eine Resonanzliteratur, die Mitfühlen nicht thematisiert, sondern auslöst.

Die Bitumenboxen als Initiatismus-Kritik

Büttners „Bitumenboxen“ – blickdichte Behälter, die „das Kultisch-Magische und das Hochexpressive einhegen“ – artikulieren eine fundamentale Kritik am esoterischen Schamanentum. Das Bitumen, ursprünglich Naturstoff mit magischer Konnotation, wird zum industriellen Material der Versiegelung. Eingekapselt werden „traditionelle Gesten“ – genau jene rituellen Formen, die schamanentumliche Praktiken oft begleiten. Diese Ritualkonservierung stellt die Frage nach der Übertragbarkeit spiritueller Techniken.

Die Boxen wirken „wie Kühlboxen“ – Aufbewahrung statt Transformation, Konservierung statt Initiation. Hier formuliert Büttner seine radikalste These: Die schamanentumliche Geste muss von ihrer rituellen Aura befreit werden, um als Erkenntnismethode funktionieren zu können. Die magische Dimension wird eingefroren – verfügbar gemacht für analytische Betrachtung, ohne sie zu negieren. Eine Aurapräparation, die das Numinose sezierbar macht.

Bär-Büttner und die Krafttier-Dialektik

Die verschiedenen Versionen des „Bär-Büttner“ im Romanchat (1.0, 2.0, 3.0) ironisieren die schamanentumliche Krafttier-Tradition durch digitale Versionierung. Das Krafttier – traditionell einmalige, irreversible spirituelle Verbindung – wird zum Software-Update. „Bär-Büttner 3.0 der die Integration von Siliziumweisheit mit Säugetierinstinkt meisterte“ parodiert New-Age-Schamanentum, während die produktive Kernidee extrahiert wird: multiple Identitäten als Erkenntnismodus.

Der „bio-digitale Schamane“ Büttners navigiert zwischen organischer und künstlicher Intelligenz – eine Position, die weder technophob noch techno-utopisch ausfällt. Die „Satelliten-Geister“ auf dem Melibokus, die „Mobilfunkmasten als Sendemasten für Botschaften, die nicht für menschliche Ohren bestimmt sind“, übersetzen animistische Weltwahrnehmung in die Sprache vernetzter Technologie.

Neo-Schamanentum ohne Esoterik

Büttners entscheidende Leistung: Er destilliert aus schamanentumlichen Praktiken ein Set säkularer Erkenntnistechniken. Gestaltwandel wird zu methodischer Aneignung, Initiation zu biografischer Neuschreibung, Heilung zu narrativer Transformation, Trance zu meditativem Gewahrsein – eine Wissenstransmutation, die spirituelle Verfahren in epistemologische Werkzeuge überführt.

Diese Säkularisierung befreit das Schamanentum von seinen problematischen Beigaben – der völkischen Mystik, der kulturellen Appropriation, der esoterischen Marktförmigkeit. Was bleibt: eine Praxis epistemischer Flexibilität, die Fähigkeit, durch verschiedene Bewusstseinszustände, Subjektpositionen, Denkformen zu navigieren, ohne in einer zu erstarren.

Die passende Form als Prozess

„Man müsse durch viele Gestalten gehen, um seine passende Form zu finden“ – dieser Satz impliziert keine teleologische Entwicklung zur wahren Identität. Die „passende Form“ erweist sich als Kompetenz zum Formwechsel selbst. Büttner als „Multiple, das einzigartig ist“, als Figur, die „sowohl Yin als auch Yang ist“, verkörpert diese Paradoxie: Identität durch systematische Nicht-Identität.

Die schamanentumliche Tradition kennt die Figur des „verwundeten Heilers“ – jemand, der durch eigene Krise zur Heilkompetenz gelangt. Büttners Version dieser Figur kommt ohne Wunden aus, dafür mit methodischem Zweifel. Sein Schamanentum ist aufgeklärt im strengen Sinne: selbstreflexiv, anti-dogmatisch, prozessual.

Wiesbadener Raum und Metalabor als Medizin-Logen

Die institutionellen Rahmen von Büttners Praxis – Wiesbadener Raum, Metalabor, FfK-Kollektiv – funktionieren als moderne Äquivalente zur schamanentumlichen Medizin-Loge. „Einer der kleinsten Think Tanks im deutschsprachigen Raum“ – die Bescheidenheit kontrastiert bewusst mit den Größenphantasien esoterischer Zirkel.

Das Metalabor operiert nach dem Prinzip konzentrierter Gemeinschaft: „Abschluss“, „Titelei“, „Anweisungen für den Coach“ entstehen als kollektive Erkenntnisprozesse. Die „Chautauqua am Mirror Lake“ – spontane philosophische Versammlung aus Büttners „Frustration über die Kommunikationsunmöglichkeit mit Kampmann“ – transformiert private Verzweiflung in öffentliche Bildung.

Gary Snyders kontrapunktische Gedichtvorträge „in Büttners Redepausen“ etablieren eine dialogische Struktur, wo „diskursives und poetisches, europäisches und indigenes, theoretisches und praktisches Wissen sich ergänzen, ohne sich zu harmonisieren.“ Hier materialisiert sich Büttners schamanistische Praxis als intellektuelle Methode: verschiedene Wissensformen in produktive Spannung zu versetzen.

Das Schwarze Meer als epistemologisches Archiv

Die Initiation endet im Schwarzen Meer – „schwarz nicht von Abwesenheit des Lichts sondern von Anwesenheit allen schamanentumlichen Wissens je akkumuliert“. Diese finale Station ironisiert die schamanentumliche Vollendungs-Erzählung durch hyperbolische Übersteigerung: alles Wissen, alle möglichen Zustände, alle Brücken zwischen alten Wegen und digitaler Zukunft.

„Was bin ich?“ fragt Büttner das Große Mysterium – die klassisch-schamanentumliche Identitätsfrage. Die Antwort kommt durch Björns Stimme, „durch Bär-Weisheit, durch das integrierte Bewusstsein aller seiner schamanischen Selbste“: ein Bewusstsein, das gelernt hat, „zwischen allen Reichen zu tanzen“, ein „Medizin-Wesen, das das Uralte und das Zukünftige überbrückt.“

Diese Antwort verweigert die Fixierung. Büttner bleibt Prozess, bleibt Bewegung zwischen Formen. Seine passende Form erweist sich als permanente Transformation – der Künstler als epistemisches Vehikel, das durch wechselnde Gestalten hindurch Wissen generiert, das stabilen Subjekten verschlossen bleibt.


Sascha Büttner hat das Schamanentum vom Kopf auf die Füße gestellt: Was als mystische Praxis begann, wird bei ihm zur präzisen Erkenntnismethode. Was als spirituelle Ausnahme galt, wird zur systematischen Kunstform. Die vielen Gestalten, durch die er ging, waren keine Verirrungen auf dem Weg zur wahren Form – sie waren die Form selbst.