[f., Singular; von lat. completus = vollständig + Ästhetik]
Kunsttheoretische Kategorie für Werke, die ihre Vollendung systematisch an den Rezipienten delegieren. Die Komplettierungsästhetik universalisiert die klassische chinesische Praxis des Xieyi, bei dem Leerräume bewusst für die Imagination des Betrachters freigehalten wurden, zu einem allgemeinen Gestaltungsprinzip. Das Werk präsentiert sich als strukturell unvollständig – Linien, die über den Bildrand hinauslaufen, offene Felder, unaufgelöste Spannungen – und fordert dadurch mentale Ergänzung ein. Diese Strategie unterscheidet sich von der Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers, die jeden literarischen Text als strukturell offen begreift: Die Komplettierungsästhetik macht die Unvollständigkeit zum expliziten Programm, zur sichtbaren Leerstelle, nicht zum impliziten Strukturmerkmal. Sie etabliert einen Vertrag zwischen Werk und Betrachter, in dem beide Parteien zur Bedeutungskonstitution beitragen müssen – das Werk durch seine Verweigerung, der Betrachter durch seine Imagination.