Eine Genealogie der Reduktion
Die Reduktion beginnt mit dem Material selbst. Bitumen – schwarzes Erdölderivat, industrieller Rohstoff ohne ästhetische Ambition – eliminiert bereits jede chromatische Komplexität. Sascha Büttner wählt dieses monochrome Substrat nicht trotz, sondern wegen seiner visuellen Beschränkung: Das penetrante Schwarz des Straßenteers verweigert spektrale Differenzierung und reduziert die Materialerfahrung auf ihre elementarste Form. Diese radikale Farbverweigerung etabliert das theoretische Fundament für alle späteren Reduktionspraktiken.
Der Verzicht operiert auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Erstens material: Büttner eliminiert die gesamte Palette künstlerischer Stoffe zugunsten eines einzigen, industriell vorgefertigten Substrats. Zweitens formal: Das Bitumen kennt nur eine Farbe, eine Textur, einen Aggregatzustand – flüssig oder fest, schwarz bleibt schwarz. Drittens konzeptuell: Die Materialwahl negiert traditionelle Vorstellungen künstlerischer Veredelung und etabliert Reduktion als ästhetisches Prinzip.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie radikalisiert diese materielle Monochromatik ins Visuelle. Wo Bitumen die chromatische Reduktion als stoffliche Eigenschaft mitbringt, vollzieht die photographische Praxis sie als bewusste technische Entscheidung. Der Verzicht auf Farbfilm eliminiert das gesamte sichtbare Spektrum zugunsten von Grauwertinformationen – eine Abstraktion, die paradoxerweise zur Konkretisierung führt. Ohne die Ablenkung durch Farbnuancen konzentriert sich die Wahrnehmung auf Struktur, Form, Licht und Schatten.
Diese doppelte Reduktionsstrategie – material und visual – etabliert eine Ästhetik der systematischen Subtraktion. Büttners Methodik folgt dem Prinzip des Wegnehmens: Farbe wird eliminiert, Spektralität negiert, chromatische Komplexität auf binäre Opposition reduziert. Schwarz und Weiß als Extrempole eines kontinuierlichen Spektrums von Grauwerten – mehr braucht es nicht zur vollständigen Erfassung visueller Realität. Diese Chromatik-Negation wird zur grundlegenden Operation seiner gesamten Bildproduktion.
Die Bitumen-Schmelze von 1994 demonstriert diese Reduktionslogik exemplarisch. 150 Kilogramm schwarzer Masse werden über zwölf Stunden erhitzt – ein Prozess, der visuell ausschließlich in Nuancen derselben Grundfarbe abläuft. Das Material wandelt seinen Aggregatzustand, aber niemals seine chromatische Identität. Büttners Polaroid-Dokumentation (alle zehn Minuten eine Aufnahme) reduziert diesen bereits monochromatischen Prozess auf 72 fotografische Momentaufnahmen. Bewegung wird zu Stillstand, Zeit zu Raum, Prozess zu Serie – lauter Reduktionsoperationen.
Polaroid-Material verstärkt diese Tendenz zur monochromatischen Ästhetik durch seine technischen Eigenschaften: begrenzte Farbdifferenzierung, Tendenz zur Sepiatonigkeit, rapide Verbleichung. Die Sofortbild-Technik reduziert nicht nur den fotografischen Prozess zeitlich (Entwicklung in Minuten statt Stunden), sondern auch qualitativ – weniger Auflösung, weniger Farbgenauigkeit, weniger Haltbarkeit. Büttner nutzt diese technischen Limitationen als ästhetische Ressource.
Die America-Durchquerung mit der Camera Obscura radikalisiert das Reduktionsprinzip durch historischen Rückgriff. Das präphotographische Aufzeichnungsverfahren eliminiert nicht nur Farbe, sondern auch mechanische Komplexität, chemische Entwicklung, industrielle Reproduzierbarkeit. Die Camera Obscura produziert einmalige, monochrome, seitenverkehrte Abbildungen – jede technische „Verbesserung“ der Photographie wird systematisch rückgängig gemacht.
Diese Technologie-Regression fungiert als konzeptuelle Progression. Büttner entwickelt eine „Annäherungsmethodologie“, die Reduktion als Erkenntnisverfahren begreift. Weniger Equipment ermöglicht mehr Wahrnehmung, weniger Farbe verstärkt strukturelle Differenzen, weniger technische Perfektion intensiviert den medialen Prozess. Die Camera Obscura als Ultimate Reduction Device – sie kann nur eines: monochromatische Abbilder der Realität projizieren.
Der genealogische Bogen Bitumen → Polaroid → Camera Obscura → analoge Schwarz-Weiß-Photographie → digitale Monochrom-Kamera manifestiert eine konsequente, aber paradoxe Eliminationsstrategie. Jede Stufe reduziert weitere Aspekte visueller Komplexität, bis die zeitgenössische Entwicklung eine bemerkenswerte Wendung nimmt: Die digitale Monochrom-Kamera eliminiert Farbinformation durch technologische Hochrüstung. Hier wird Reduktion zum Luxusgut – 5.000 Euro für eine Kamera, die bewusst weniger kann als jede 500-Euro-Konkurrenz. Verzicht als Kaufargument, Beschränkung als Premium-Feature.
Diese ökonomische Paradoxie markiert die Transformation der monochromatischen Praxis von subversiver Materialästhetik zu elitärer Konsumhaltung. Während Büttners Bitumen die Reduktion als systemkritische Geste etablierte, kommerzialisiert die Luxus-Digitaltechnik denselben Verzicht als distinktive Differenz. Die Subtraktionslogik entwickelt eine eigene Ästhetik der Konzentration – aber auch eine Ökonomie der künstlichen Verknappung.
Kunsthistorisch positioniert sich Büttners Reduktionspraxis zwischen verschiedenen monochromatischen Traditionen, aber mit entscheidenden Differenzen. Während Yves Klein das Blau zur spirituellen Transzendenz steigerte (IKB – International Klein Blue als patentiertes Absolutes), Rothko die Farbfeldmalerei zur metaphysischen Intensität führte und Ad Reinhardt schwarze Gemälde als „ultimate paintings“ konzipierte, bleibt Büttners Monochromatik materiell-konkret verankert. Sein Schwarz kommt nicht aus der Tube, sondern von der Straße – Industriestoff statt Künstlerfarbe.
Diese Differenz etabliert Büttners Position als Post-Spiritueller Monochromatismus. Die Reduktion dient nicht der mystischen Überhöhung, sondern der systemkritischen Analyse. Bitumen als universelles Medium der Moderne – Straßenbau, Dächisolierung, Schiffbau – wird zum künstlerischen Material ohne Transformation seiner industriellen Identität. Das Monochrome bleibt roh, ungefiltert, unverfeinert.
Die photographische Schwarz-Weiß-Praxis operiert analog. Keine nostalgische Rückbesinnung auf „klassische“ Photographie, sondern bewusste Verweigerung zeitgenössischer Farbsättigung. In einer visuellen Kultur der chromatischen Überreizung etabliert der Farb-Verzicht eine Gegenposition. Reduktion als Widerstand gegen spektakuläre Bilderflut.
Text funktioniert als drittes Reduktionsmedium. Büttners „obsessive Textproduktion“ eliminiert die visuelle Dimension komplett und reduziert die Kunsterfahrung auf sprachliche Beschreibung. Wo die Bitumen-Arbeiten materiell verschwinden (von Reinigungskräften entsorgt), perpetuiert der Text ihre Existenz durch totale Abstraktion. Materie wird zu Sprache, Anschauung zu Konzept, Sichtbarkeit zu Lesbarkeit. Diese Materiell-Verbale Kompensation etabliert Text als Perpetuierungsmedium des Vergänglichen.
Diese dreifache Reduktionsstrategie – material (Bitumen), visual (Schwarz-Weiß), verbal (Text) – erweitert sich um eine vierte Dimension: die ökonomische Reduktion als Luxusphänomen. Digitale Monochrom-Sensoren eliminieren Farbpixel hardwareseitig und transformieren technische Limitation in Exklusivität. Der „Wiesbadener Raum“ als Laboratory of Systematic Subtraction antizipiert diese Entwicklung, in der Reduktion von subversiver Geste zu konsumptiver Distinktion mutiert. Büttners Methodologie entwickelt Reduktion zur erkenntnistheoretischen Praxis: Weniger zeigen, um mehr zu sehen – eine Logik, die später von der Luxusindustrie appropriiert wird. Das Monochrome als epistemisches Instrument wird zum lifestyle-orientierten Statussymbol.
Die institutionskritische Dimension dieser Reduktionspraktiken manifestiert sich in der systematischen Verweigerung dekorativer Funktionen. Bitumen schmückt nicht, es beschmutzt. Schwarz-Weiß-Photographie dekoriert nicht, sie analysiert. Text illustriert nicht, er reflektiert. Jedes Medium verweigert seine spektakuläre Verwendung zugunsten seiner analytischen Potenziale.
Büttners monochromatische Praktiken etablieren so eine Ästhetik der konsequenten Limitation. Von der Materialwahl bis zur Dokumentationsstrategie operiert jede Entscheidung nach dem Prinzip der bewussten Beschränkung. Das Ergebnis: eine Kunst der systematischen Reduktion, die Komplexität nicht eliminiert, sondern konzentriert. Weniger wird nicht zu Weniger, sondern zu More of Less – einer intensivierten Erfahrung des Reduzierten.