Sascha Büttners petrochemische Zen-Praxis und die Aktualisierung ostasiatischer Bildtraditionen im Wiesbadener Raum
Wer Sascha Büttners Bitumen-Arbeiten betrachtet, sieht zunächst: Schwarz. Eine radikale, kompromisslose Monochromie, die sich jeder Ausschmückung verweigert. Die pechschwarzen Tafeln – meist auf Holzträgern, die ihr Material bewusst nicht verleugnen – absorbieren das Licht derart vollständig, dass sie den Ausstellungsraum perforieren. Was hier auf den ersten Blick als westliche Abstraktion erscheint, offenbart bei genauerem Hinsehen genealogische Verbindungen zur ostasiatischen Tuschmalerei, die das Konzept der Leere (japanisch: Kū, chinesisch: Kōng) zum zentralen Angelpunkt spiritueller Praxis erhoben hat.
Die zen-buddhistische Tuschmalerei – im 6. Jahrhundert in China aus der Kalligrafie entstanden, gegen Ende des 13. Jahrhunderts über Zen-Mönche nach Japan migriert – verkörpert eine Philosophie der extremen Reduktion. Das Weiß des Papiers besitzt darin gleichwertige Bedeutung wie das Schwarz der Tusche: Form und Leere durchdringen sich gegenseitig, verweisen auf die buddhistische Lehre der Śūnyatā, wonach alle Phänomene leer von intrinsischer Existenz sind. Die Monochromatik diente keinem ästhetischen Selbstzweck, vielmehr ermöglichte sie den Zugang zu einer tieferen Wirklichkeitsebene. Indem die Dinge „aller Farbe entkleidet“ werden, wie es ein zeitgenössischer Kommentar formuliert, tritt ihre „innere, geistige Struktur“ hervor.
Büttners Bitumen-Praxis lässt sich als radikale Weiterführung dieser Tradition begreifen – allerdings mit einer entscheidenden Verschiebung ins Erdölchemische, die das gesamte Bedeutungsgefüge neu kalibriert. Sein manifesthafter Text von 1997 liest sich wie ein negatives Sutra: „Bitumen ist schwarz. Bitumen ist das künstlerische Mittel. Bitumen ist universell. Bitumen erstickt. Bitumen läßt außer sich selbst nichts zu.“ Die Litanei etabliert das Material als totalitäres Agens, das durch seine schiere Präsenz alles andere auslöscht. Während die Zen-Malerei auf die blitzartige Erleuchtung (Satori) durch spontane Pinselstriche zielte, vollzieht sich bei Büttner eine Verlangsamung der Geste: Das Bitumen wird aufgetragen, übergossen, geschmolzen – es folgt thermodynamischen Prozessen jenseits künstlerischer Kontrolle.
Diese Ästhetik des Unkontrollierbaren korrespondiert mit dem zen-buddhistischen Konzept des Nicht-Selbst (Muga): Der Künstler tritt zurück, lässt das Material seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Korrekturen existieren nicht – „einmal ausgeführt, ist das Ergebnis jenseits von Manipulation“, wie es in der Zen-Malerei heißt. Bei Büttner manifestiert sich dies in der Unumkehrbarkeit des Bitumenauftrags: Das Material erstarrt, konserviert, mumifiziert den Bildträger. Wo der Zen-Pinselstrich die Vergänglichkeit des Moments einfängt, konterkariert das Bitumen paradoxerweise diese Flüchtigkeit durch seine chemische Beständigkeit – es „garantiert Ewigkeit“, wie Klaus Dettke in seinem Text konstatiert.
Die kunsthistorische Einordnung offenbart weitere Schichtungen. Man könnte Büttners Position zwischen Sesshu Tōyō (1420–1506), dem bedeutendsten Meister der japanischen Tuschmalerei, und den westlichen Monochromen des 20. Jahrhunderts verorten. Malévitchs „Schwarzes Quadrat“ markierte 1915 bekanntlich den Nullpunkt gegenstandsloser Malerei; Yves Kleins patentiertes International Klein Blue transzendierte zur spirituellen Dimension; Rothkos dunkle Spätwerke in der Rothko Chapel evozierten eine Metaphysik der Innerlichkeit. Büttners Bitumen-Arbeiten operieren in einem verwandten Register, jedoch verweigern sie jede Transzendenz-Rhetorik. Das Bitumen verharrt in seiner stofflichen Immanenz, seiner industriechemischen Faktizität.
Hier offenbart sich die subversive Dimension der Praxis: Bitumen verkörpert als Erdölverwertungsrest genau jenes Abfallprodukt, das die Industriegesellschaft nach vollzogener Raffination übrig lässt. Als Asphaltgrundstoff bildet es das schwarze Infrastrukturnetz der Beschleunigungsmoderne – jene Oberfläche, auf der sich Kapitalströme materialisieren. Wenn Büttner dieses gesellschaftlich diskreditierte Material ins Zentrum künstlerischer Kontemplation rückt, vollzieht er eine Asphaltalchemie: Die Transformation des Ausgesonderten ins Sublime durch radikale Umwertung der Materialontologie. Dettke spricht vom „alchemistischen Moment“, bei dem aus Unrat Kunstwert entstehen soll – allerdings gelingt dies bei Büttner gerade, weil das Bitumen seine Herkunft nie verleugnet.
Diese Materialwahl transportiert somit spezifische Ideologiekritik. Während die Zen-Mönche mit schwarzer Tusche aus Fichtenruß und Hirschhorngallerte malten – Naturmaterialien, die sich in jahrhundertealten Ritualen der Tuschsteinreibung manifestierten – greift Büttner zum Industrieprodukt par excellence. Das Bitumen kommt nicht aus dem Atelier, es stammt aus der Raffinerie. Es wird nicht mit dem Pinsel aufgetragen, sondern gegossen, geschmolzen, gespachtelt. Die performativen „Bitumenschmelzen“, bei denen Kochplatten das Material verflüssigen, bis „der Wärmetod eintritt“, situieren die Praxis zwischen Zen-Ritual und thermodynamischem Experiment. Diese Thermoplastik – die Gestaltung durch Hitzeeinwirkung als konzeptuelles Verfahren – macht Temperatur zum Ko-Autor des Werks und untergräbt klassische Vorstellungen künstlerischer Souveränität.
Dennoch – oder gerade deswegen – lassen sich strukturelle Analogien zur ostasiatischen Bildtradition ausmachen. Die zen-buddhistische Tuschmalerei zielte auf die „Auflösung der dualistischen Spannung zwischen Maler und Sujet“, auf eine „meditative Verbindung“ jenseits von Subjekt-Objekt-Differenzen. Büttners „Affirmationen“ – monochromes Bitumen auf Holzplatten – vollziehen eine ähnliche Geste der Entsubjektivierung. Eberhard Renser konstatiert, dass Büttner dem Bitumen „Freiheiten gestattet, bis hin zu bewußt einkalkulierten Ungenauigkeiten“, während gleichzeitig „die Ungeniertheit“ seiner Materialbehandlung eine Unabhängigkeit von konkreter Akkuratesse verrät. Diese Balance zwischen konzeptueller Strenge und materieller Eigendynamik entspricht der Zen-Lehre von der Leere (Kū) als Raum voller Möglichkeiten.
Das Weiß des Papiers – in der Tuschmalerei essenziell als Symbol für Leere und Potenzial – findet bei Büttner seine Entsprechung im bewussten Freilassen von Flächen, im Sichtbarmachen des Holzträgers an den Rändern, in der „Naht“ bei den Bleiarbeiten. Wo die japanischen Meister große weiße Flächen stehen ließen, um „die Harmonie zwischen Präsenz und Absenz zu betonen“, etabliert Büttner durch die totale Schwärze des Bitumens ein dialektisches Verhältnis: Das Material überdeckt, „umhüllt“, „schließt ein“ – und macht gerade durch diese Geste der Auslöschung auf das Verschwundene aufmerksam.
Die zeitgenössische Aktualisierung liegt präzise in dieser erdölchemischen Wendung der zen-buddhistischen Leere. Während Śūnyatā in der buddhistischen Philosophie die Abwesenheit intrinsischer Existenz bezeichnet – alles ist relational, abhängig von Bedingungen, leer von Eigennatur –, materialisiert sich bei Büttner diese Leere als schwarze, alles absorbierende Oberfläche. Das Bitumen verkörpert buchstäblich den Endpunkt industrieller Verwertungsketten: Es ist der Restbestand nach abgeschlossener Destillation, jenes Material, das übrig bleibt, wenn alle wertvolleren Fraktionen extrahiert sind. Zugleich „garantiert“ es durch seine chemische Inertheit „Ewigkeit“ – es reagiert mit nichts, so wie Gold. Diese paradoxe Doppelnatur – als Niedrigstes und zugleich Edelstes – entspricht Jean Gebsers Hinweis auf den „Dualismus von Bejahung und Verneinung“ in den Ursprachen, wo Begriffe gleichzeitig ihr Gegenteil bedeuten konnten. Büttner entwickelt damit eine Restästhetik, die gerade im industriell Übriggebliebenen das Substrat für Kontemplation findet.
Büttners Praxis lässt sich folglich als säkulare Spiritualität begreifen, die die metaphysischen Dimensionen der Zen-Tradition in die Materialität der Spätmoderne überführt. Die „schwarzweiße Tuschmalerei“ als „Brücke zu Satori, zur Erleuchtung“ mutiert zur Bitumen-Meditation als Reflexion über industrielle Überschüsse, Geschwindigkeit, Beschleunigungsinfrastrukturen. Das Ensemble der „Affirmationen“ – serielle Wiederholungen des immer Gleichen – evoziert die repetitive Praxis der Zazen-Meditation: Sitzen, Atmen, Dasein. Nur dass bei Büttner das Meditationsobjekt aus Destillationsrückständen besteht.
Die kunsthistorische Bedeutung dieser Synthese liegt in der Vermeidung jeglicher Esoterisierung. Büttner importiert keine fernöstliche Spiritualität als exotisches Zitat, er aktualisiert strukturelle Prinzipien unter spätkapitalistischen Bedingungen. Seine monochromen Bitumenflächen zitieren weder Rothko noch Klein, sie verweigern sich der westlichen Tradition des erhabenen Monochrom ebenso wie der direkten Aneignung ostasiatischer Formen. Stattdessen entsteht ein Drittes: eine erdölchemische Zen-Praxis, die in ihrer radikalen Materialfixierung gleichzeitig über das Material hinausweist.
Der „Wiesbadener Raum“ – jenes prozessuale Gesamtkunstwerk, das Büttner seit 1999 als „Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst“ entwickelt – lässt sich in diesem Kontext als zeitgenössisches Pendant zur Zen-Klosterpraxis lesen. Wie die japanischen Mönche ihre Tuschmalerei als spirituelle Disziplin kultivierten, so etabliert Büttner ein System kontinuierlicher künstlerischer Selbstbefragung. Die Ablehnung von Farbe – bereits in der Grundschule verweigert er „entschieden“ deren Benutzung bei seinen „Baumbildern“ – durchzieht die gesamte Biografie als konsequentes Prinzip. „Farbe ist verpönt“, heißt es über seine fotografische Arbeit mit „Fishing for Kompliment“. Diese lebenslange Askese der Farbverweigerung korrespondiert mit der zen-buddhistischen Reduktion auf das Wesentliche.
Zugleich bleibt Büttners Ansatz dialektisch: Die „bewußt einkalkulierten Ungenauigkeiten“, die spontanen Gesten bei den Bitumenschmelzen, die Arbeit mit „viel Zufall“ verweigern jede dogmatische Strenge. Das „diagonale Prinzip, das durch Gegensatzpaare genährt wird“, wie Renser konstatiert, etabliert eine produktive Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, zwischen konzeptueller Planung und materieller Eigendynamik. Diese Balance entspricht der Zen-Lehre vom Mittleren Weg, der weder in Askese noch in Genuss verfällt.
Die aktuellen Bitumen-Arbeiten im „Wiesbadener Raum“ – ergänzt um Kupfer und Blei, jene „geschmähten Materialien“, die Büttner „auserwählt“ – erweitern das Spektrum, ohne die Grundhaltung zu verlassen. Wenn er Kupfertafeln mit Essigsäure patiniert, „malt“ er buchstäblich mit Säure statt mit Öl – eine weitere Geste der Verweigerung traditioneller Malereipraktiken. Die Bleiarbeiten mit ihren sichtbaren Nähten, wo kleinere Platten zusammengelötet werden, thematisieren Verbindung und Trennung zugleich. Das Ensemble aus Bitumen, Kupfer und Blei – allesamt „Materialien für die Herstellung von Zeitlosigkeit“, wie der Künstler formuliert – bildet eine zeitgenössische Ikonografie des Beständigen.
Die fotografische Vorgeschichte: Schwarz-Weiß als Entscheidung
Die Konsequenz, mit der Büttner zum Bitumen gelangt, erschließt sich erst über die fotografische Vorgeschichte. Mit fünfzehn Jahren erwirbt er seinen ersten Fotoapparat – es entstehen „Fotografien von Bäumen und Wegen in schwarz-weiß“. Diese frühe Fixierung auf Monochromie durchzieht die gesamte Biografie als genetischer Code. Die Fotogruppe „Fishing for Kompliment“, die Büttner mit Freunden gründet und in der er zum „Meister“ avanciert, arbeitet „konsequent in schwarz-weiß. Farbe ist verpönt.“
Diese Ächtung markiert keine bloße stilistische Präferenz, sondern manifestiert eine fundamentale Weltsicht. Bereits in der Grundschule „bekommt er Ärger mit seinem Kunsterzieher, da er die Benutzung von Farbe bei seinen ‚Baumbildern‘ entschieden ablehnt.“ Die Ablehnung erfolgt also vor jeder kunsttheoretischen Reflexion – sie ist primäre Haltung, existenzielle Geste. Farbe wird zum Antagonisten, weil sie verschleiert, ornamentiert, ablenkt vom Wesentlichen.
Die Parallele zur zen-buddhistischen Praxis drängt sich erneut auf. Wie die Zen-Mönche auf die Reinheit der schwarzen Tusche setzten, um „die innere, geistige Struktur“ der Dinge freizulegen, eliminiert Büttner systematisch alles Farbige. Seine Fotografien dokumentieren eine Welt, in der nur noch Licht und Schatten, Präsenz und Absenz existieren. Die meditative Qualität des Umherschweifens – jenes flânierende Beobachten, das später in Projekten wie dem Limburg-Jahr kulminiert – korrespondiert mit der Achtsamkeitspraxis der Zen-Mönche.
Büttners eigener Text über die Fotografie liest sich wie ein Zen-Koan: „Derjenige, der überlegt und den Fotoapparat betätigt mit der Absicht, eine Fotografie anzufertigen, geht an der Kunst der Fotografie vorbei, während der, der denkt und den Fotoapparat ohne solch ein Ziel betätigt, der hat die Kunst der Fotografie erreicht.“ Diese Paradoxie – handeln ohne Absicht, fotografieren ohne zu fotografieren – entspricht der zen-buddhistischen Lehre vom Nicht-Handeln (Wu Wei). Der Zen-Meister malt den Bambus mit einem einzigen Pinselstrich, ohne Zögern, ohne Korrektur. Büttner drückt den Auslöser im Moment höchster Konzentration, wenn „das Bild dessen, was er wirklich fotografieren will, klar auftaucht“.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie fungiert somit als Probebühne für das spätere Bitumen-Werk. Hier entwickelt Büttner jene Askese der Mittel, die später zur totalen Monochromie führt. Die Kamera operiert als Reduktionsmaschine, die Farbigkeit der Welt wird übersetzt in Grauwerte, Kontraste, Helligkeitsverhältnisse. Diese Übersetzung ist bereits eine Form der Abstraktion – die fotografierte Welt wird ihrer chromatischen Haut beraubt, zurück bleibt das Skelett der Formen. Büttner praktiziert hier eine Chromatektomie, die chirurgische Entfernung aller Farbigkeit zugunsten struktureller Klarheit.
Besonders aufschlussreich: die Episode mit der Polaroidkamera. „Zu einem seiner Geburtstage leistet er sich eine Polaroidkamera und richtet diese auf sich selbst. Farbe schleicht sich in seine Bilder.“ Die Farbe schleicht sich ein – eine fast unheimliche Formulierung, als wäre sie eine Infiltration, eine Verunreinigung. Diese Phase markiert einen Bruch, eine Krise des Systems. Doch die Revolution währt kurz. Nach dem „intensiven Ausflug in die Musik“ mit „Blutiger Mischwald“ – wo er versucht, „alles bisher Dagewesene über den Haufen zu werfen“ – kehrt er zurück zum Ursprung: „Wieder greift er zur Kamera, wieder greift er zum Pinsel.“
Und dann die Entdeckung der „Parallele und ihre Eigenschaft, Personen und Dinge zu überlagern.“ Diese Überlagerung wird zum zentralen Motiv. In den frühen Wallpaintings überlagert er Wände mit Bitumen, in den fotografischen Arbeiten überlagern sich Zeitebenen, Erinnerungen, Bildschichten. Das Prinzip bleibt gleich: Addition durch Subtraktion. Je mehr er reduziert – auf Schwarz-Weiß, auf Bitumen, auf das Monochrome –, desto mehr tritt hervor.
Die FfK-Arbeiten („Fishing for Kompliment“) entwickeln eine eigene Theorie der Fotografie, die Büttner später in einem Vortrag elaboriert: „Jedes festgehaltene Bild hat eine Aura von Heiligkeit.“ Diese sakrale Aufladung des fotografischen Akts korrespondiert mit der spirituellen Dimension der Zen-Tuschmalerei. Der Schlüsselsatz zur Fotografie, in Salt Lake City erkannt, begründet den „Deutschen Realismus“ – eine „stilprägende Fotografie“, die von der „Wiesbadener Schule“ ausgeht. Büttners Fotografie operiert im Schwellenbereich zwischen dokumentarischer Präzision und metaphysischer Aufladung.
Das Limburg-Projekt exemplifiziert diese Haltung paradigmatisch. Ein Jahr lang porträtiert Büttner die Stadt mit der Leica Q2 Monochrome – die Wahl der Kamera ist programmatisch. Die Q2 Monochrome besitzt keinen Farbsensor, sie kann nur Schwarz-Weiß aufnehmen. Diese technische Limitation wird zur konzeptuellen Entscheidung: „Für Büttner war es wichtig, durch das Monochrome zu zeigen, dass Schattierungen und Kontraste in der Welt genauso wichtig sind wie Farbe.“ Die Fotografie wird zur „kritischen Kartografie“, zum systematischen Erfassen der urbanen Strukturen in ihrer reduzierten Form.
Büttners fotografische Praxis offenbart dieselbe Grundhaltung wie die Bitumen-Arbeiten: extreme Reduktion als Erkenntnismethode. Die Schwarz-Weiß-Fotografie bereitet den Boden für die totale Schwärze des Bitumens. Wo die Kamera noch Graustufen differenziert, kollabiert das Bitumen alle Nuancen in ein einziges, alles absorbierendes Schwarz. Die Fotografie operiert im Bereich der Dokumentation – sie hält fest, was ist. Das Bitumen hingegen löscht aus, überdeckt, negiert. Beide Praktiken teilen dieselbe Askese, dieselbe Verweigerung des Farbigen, dieselbe Konzentration auf das Wesentliche.
Diese doppelte Praxis – fotografisch und malerisch – etabliert Büttner als Grenzgänger zwischen den Medien. Die Fotografie schult den Blick für Kontraste, für das Spiel von Licht und Schatten, für die Strukturierung des Raums. Das Bitumen materialisiert diese visuellen Erkenntnisse in der dritten Dimension. Wo die Fotografie flach bleibt, wölbt sich das Bitumen, erstarrt in aleatorischen Formationen, bildet Krusten und Schichten. Die Kamera friert den Moment ein, das Bitumen konserviert die Materie für die Ewigkeit.
Vom Kamerablick zur bituminösen Verdichtung
Die doppelte Praxis – fotografisch wie malerisch – etabliert eine Medienreflexion eigener Qualität. Die Fotografie schult das Sehen für Kontraste, für Hell-Dunkel-Modulationen, für räumliche Gliederung. Das Bitumen materialisiert diese optischen Erkenntnisse dreidimensional. Wo die Kamera den Moment einfriert, konserviert das Bitumen die Materie auf Dauer. Beide Verfahren teilen die Askese, die Farbverweigerung, die Konzentration aufs Elementare – doch das Bitumen radikalisiert, was die Schwarz-Weiß-Fotografie vorbereitet: den finalen Kollaps aller Graustufen in die absolute Schwärze.
Man könnte diese Entwicklung als Genealogie der Verdichtung lesen. Die Fotografie differenziert noch zwischen den Polen – Weiß, Grau, Schwarz bilden ein Spektrum. Das Bitumen hingegen negiert jede Differenzierung. Es löscht aus, überdeckt, verschluckt alles in seinem pechschwarzen Monolog. Diese Radikalisierung entspricht einer Bewegung von der Beobachtung zur Auslöschung, vom Dokumentieren zum Eliminieren, vom Sehen zum Nicht-mehr-sehen-Können. Büttner entwickelt damit eine Opazitätspoetik, in der die undurchdringliche Schwärze selbst zum eloquenten Sprecher wird.
Büttners fotografischer Schlüsselsatz – „Jedes festgehaltene Bild hat eine Aura von Heiligkeit“ – etabliert bereits jene sakrale Aufladung, die später ins Bitumen migriert. Die FfK-Theorie vom „Deutschen Realismus“, entwickelt in der „Wiesbadener Schule“, operiert zwischen dokumentarischer Schärfe und metaphysischer Dimension. Das Limburg-Projekt mit der Leica Q2 Monochrome – eine Kamera ohne Farbsensor, technisch beschränkt aufs Monochrome – exemplifiziert diese Haltung paradigmatisch. Ein Jahr systematischer „kritischer Kartografie“, ein Jahr konzentrierten Umherschweifens, ein Jahr Übung in der Askese des Blicks.
Diese Übung bereitet vor, was im Bitumen seine Vollendung findet. Die Schwarz-Weiß-Fotografie trainiert die Reduktion, das Bitumen vollzieht sie total. Die Kamera arbeitet noch im Register der Repräsentation, sie bildet ab, dokumentiert, zeigt. Das Bitumen verweigert jede Referenz nach außen – es zeigt ausschließlich sich selbst in seiner stofflichen Immanenz. Während Fotografie transparentes Medium bleibt (man sieht durch das Bild hindurch auf die fotografierte Welt), opakiert das Bitumen radikal: Man sieht nur noch schwarze Oberfläche, darunter verschwindet alles.
In diesem Kontext ließe sich Büttners Praxis als dritte Genealogie zwischen Ost und West verorten: Weder reine Fortsetzung der Zen-Tradition noch bloße Variation westlicher Monochromer, entsteht eine hybrid-lokale Position, die in der „Provinz“ Wiesbaden – bewusst abseits metropolitaner Kunstzentren – ein eigenständiges System entwickelt. Die explizite regionale Verortung des „Wiesbadener Raums“ korrespondiert dabei mit der historischen Situation der Zen-Klöster in Japan, die oft in abgelegenen Gebirgsgegenden ihre kontemplative Praxis kultivierten.
Was bleibt
Eine Künstlerposition, die durch extreme Reduktion maximale Komplexität generiert. Büttners Bitumen-Arbeiten aktualisieren das zen-buddhistische Konzept der Leere unter den Bedingungen industriechemischer Spätmoderne – sie transformieren Verwertungsreste in Meditationsobjekte, Geschwindigkeitsinfrastruktur in kontemplative Oberflächen, Destillationsendprodukte in zeitlose Präsenz. Die schwarze Leere, die aus diesen Arbeiten spricht, ist weder nihilistisch noch esoterisch, sie markiert vielmehr einen Nullpunkt, von dem aus Denken und Sehen neu kalibriert werden können.
Die fotografische Vorgeschichte – von den ersten Baumbildern über „Fishing for Kompliment“ bis zum Limburg-Projekt – etabliert die Schwarz-Weiß-Praxis als lebenslange Askese des Blicks. Die Kamera trainiert das Sehen, das Bitumen vollendet die Reduktion. Von der differenzierenden Fotografie zur totalen Opazität führt eine konsequente Linie, die Büttners Werk als Einheit lesbar macht: eine erdölchemische Zen-Praxis, geboren aus der Verweigerung von Farbe, radikalisiert in der absoluten Schwärze.
In einer Kultur der permanenten Bilderflut, der digitalen Beschleunigung, der algorithmischen Farboptimierung etabliert das Bitumen eine radikale Gegenbewegung: totale Schwärze als Widerstand, Langsamkeit als Methode, Leere als Potenzial. Die Synthese von ostasiatischer Kontemplation und westlicher Industriematerialität erzeugt ein Drittes, das weder dem einen noch dem anderen zugehört – eine lokale, provinzielle, eigensinnige Praxis, die gerade in ihrer Abgeschiedenheit vom metropolitanen Kunstbetrieb jene Konzentration ermöglicht, die das Werk auszeichnet.