Selbstverschlingung als Programm

Über „Wege zu sich selbst – Die Radical Dude Society“

Man könnte meinen, Sascha Büttner habe mit „Wege zu sich selbst“ das perfekte Dokument des Vergänglichkeitskonzepts geschaffen – wäre da nicht die paradoxe Fixierung des Flüchtigen in einem gebundenen Buchblock, der hartnäckig auf Dauerhaftigkeit insistiert. Diese Sammlung pseudojournalistischer Texte über eine möglicherweise inexistente „Radical Dude Society“ operiert als labyrinthisches Textgewirr, dessen zentrifugale Kräfte jeden Versuch linearer Lektüre systematisch untergraben.

Die Erfindung einer Geheimgesellschaft

Die Genese der RDS liest sich wie eine Büttner’sche Autofiktion: 2020, im Höhepunkt der Pandemie, erfindet der in Limburg lebende Coach, Fotograf und Taoist eine Geheimgesellschaft, gibt ihr eine 512-seitige Geschichte durch alle Jahrhunderte, schleust das Werk in den Buchhandel – und wartet. Was folgt, übertrifft jeden postmodernen Plot: Ein staatlicher Nachrichtendienst verhört Büttner wegen seiner erfundenen Society, während das Buch gleichzeitig Kultstatus erlangt, als Raubkopie an Universitäten zirkuliert und angeblich in alle Sprachen übersetzt wird. Die Website knotenpunkte.net, einst Domizil einer Netzkunstausstellung von 2007, wird zum proklamierten „Zentralorgan“ der RDS umfunktioniert. Fiktion generiert Realität, die wiederum fiktional verarbeitet wird – ein perfekter Möbiusstreifen der Selbstverdopplung.

Der Protagonist, die Erzählinstanz „Sab Internet“ (ein kaum verhülltes Alter Ego Büttners), jagt einem Phantom nach, das sich bei näherer Betrachtung als Projektion der eigenen schreibenden Bewegung entpuppt. Diese rekursive Struktur, in der die Suche nach der RDS permanent in Selbstreflexion kollabiert, generiert eine spezifische Textualitätsdrift: Das Schreiben erschafft seinen Gegenstand im Moment seiner Auflösung. Büttner kultiviert eine Prosa der kalkulierten Verflüchtigung, deren hypnotische Satzschleifen Bedeutungsnebel inszenieren, während sie vorgeben, Sinn zu transportieren.

Architektur des Zerfalls

Die formale Komposition des Werks – ein Konglomerat aus fingierten Artikeln, Tagebuchfragmenten („Tagheft“ und „Nachtheft“, eine Referenz an Nastassja Martin), theoretischen Exkursen und pseudowissenschaftlichen Analysen – erweist sich als geschickt orchestrierte Zerfallsästhetik. Jeder Textbaustein verspricht Aufklärung über die mysteriöse Society, akkumuliert stattdessen einen Nebel aus Andeutungen, Widersprüchen und narrativen Sackgassen. Diese deliberate Inkohärenz transformiert das Vergänglichkeitskonzept von thematischer Obsession zur strukturellen Methode: Der Text praktiziert sein eigenes Verschwinden im Vollzug der Lektüre.

Besonders instruktiv zeigt sich Büttners Verfahren in den eingestreuten Fußnoten, die weitere Verästelungen produzieren, wo Erläuterung versprochen war. Die behauptete Publikation der Texte in internationalen Zeitschriften – bei gleichzeitigem editorischen Eingeständnis ihrer Unauffindbarkeit – installiert eine Verfügbarkeitsparadoxie, die das gesamte Werk durchzieht. Was existiert, was existierte, was hätte existieren können, verschwimmt in einer temporalen Unschärfe, die Büttners Konzept einer „Updatezeitlichkeit“ praktisch umsetzt.

Philosophische Camouflage

Die theoretischen Referenzen – von daoistischem Wu Wei über Deleuze/Guattaris Rhizomatik bis zu zeitgenössischen Theoretikerinnen wie Eva von Redecker, Şeyda Kurt oder Robin Wall Kimmerer – funktionieren als weitere Ebene der Verflüchtigungspraxis. Begriffe wie „Zärtlichkeit“, „Bleibefreiheit“ oder die mysteriösen „10.000 Wesen“ zirkulieren durch den Text, entziehen sich jeder definitiven Fixierung. Diese terminologische Fluidität erzeugt eine eigentümliche Sogwirkung: Je präziser man zu greifen versucht, desto mehr entgleitet. Die RDS folgt angeblich dem Dao, jedoch explizit nicht dem Daoismus – eine Distinktion, die das gesamte Werk durchzieht wie ein Koan, das seine eigene Auflösung verweigert.

Die proklamierte neo-schamanische Ausrichtung der Society, ihre Kommunikation über die „Frequenz der Erde“ (Schumann-Resonanzen), die jährlichen Treffen im „metalabor“ – all diese Versatzstücke esoterischer Diskurse werden so exzessiv akkumuliert, dass sie in ihrer Überdeterminiertheit wieder ins Leere laufen. Büttner beherrscht die Kunst der semantischen Überladung, die zur Bedeutungsentkernung führt.

Die Aporie der dokumentierten Abwesenheit

Die obsessive Dokumentation des Verschwindens – das Buch umfasst mehrere hundert Seiten minutiös ausgearbeiteter Textfragmente – konterkariert allerdings die proklamierte Flüchtigkeit. Büttners „strategisches Verschwinden“ materialisiert sich ausgerechnet in einem physischen Objekt, das seine eigene Negation archiviert. Diese Spannung zwischen Spurenlosigkeit und Spurenproduktion durchzieht das Werk wie ein unaufgelöster Grundakkord.

Die literarische Qualität oszilliert zwischen brillanten Passagen mäandernder Bewusstseinsströme und ermüdenden Redundanzen. Wenn der Erzähler zum x-ten Mal seine Suche nach der RDS als Selbstsuche enttarnt, mutiert die anfangs produktive Zirkularität zur manischen Wiederholungsschleife. Das Vergänglichkeitskonzept droht hier von einem ästhetischen Verfahren zur zwanghaften Selbstbespiegelung zu verkommen.

Büttners Metamethodologie

Was „Wege zu sich selbst“ letztlich leistet, ist eine Metamethodologie des künstlerischen Verschwindens. Büttner, der sich selbst als „Guru, Meister-Coach, Mitglied der Radical Dude Society, Meister der Levitation und Fotograf“ beschreibt und behauptet, „auf einem Berg“ zu leben, praktiziert eine Form der Selbstmythologisierung, die ihre eigene Dekonstruktion bereits inkludiert. Seine fotografische Praxis – die bewusst unscharfen, verwischten Bilder im Stil der japanischen Provoke-Bewegung – findet hier ihr literarisches Äquivalent: eine Textproduktion, die Präzision durch kalkulierte Unschärfe ersetzt.

Die RDS wird zum ultimativen McGuffin, einem narrativen Attraktor, der Bedeutung verspricht, aber nur Bewegung generiert. Dass Büttner dieses Konzept bereits im „Wiesbadener Raum“ entwickelte, dass er Texte aneignet und umschreibt, dass die GROB Masterclass und das „Wiki Institute“ weitere Stationen dieser Verschwindungspraxismarkieren – all das fügt sich zu einer kohärenten künstlerischen Strategie, die ihre Inkohärenz zum Programm erhebt.

Fazit: Das produktive Scheitern

Büttners „Wege zu sich selbst“ markiert einen bemerkenswerten Beitrag zur zeitgenössischen Literatur des Verschwindens. Das Werk praktiziert konsequent seine theoretische Proklamation – eine Ästhetik der kalkulierten Vergänglichkeit, die ihre eigene Auflösung als konstitutives Element begreift. Dass diese Auflösung letztlich scheitert, dass das Buch existiert statt zu verschwinden, macht es paradoxerweise zum gelungenen Dokument seiner eigenen Unmöglichkeit.

In dieser produktiven Selbstwidersprüchlichkeit liegt die eigentliche Pointe von Büttners Vergänglichkeitsprogramm: Das Verschwinden lässt sich nur als Spur seiner selbst denken – ein Phantom, das durch seine Abwesenheit präsent bleibt, eine Geistererscheinung, die ihre Manifestation im Moment ihrer Verleugnung findet. Die Radical Dude Society existiert vielleicht am intensivsten in jenem Zwischenraum, wo Fiktion und Realität ununterscheidbar werden – einem Raum, den Büttner mit bemerkenswerter Konsequenz kartografiert, während er ihn gleichzeitig zum Verschwinden bringt.


Anmerkungen und Quellen

Für weitere Forschungen zur Radical Dude Society und Sascha Büttners künstlerischer Praxis seien folgende Materialien empfohlen:

Primärliteratur:

  • Büttner, Sascha (Hrsg.): Radical Dude Society. Die fantastische Geschichte der Radical Dude Society durch alle Jahrhunderte. Norderstedt: BoD 2020, 512 S. (ISBN: 978-3-7519-7704-3)
  • Ders.: Wege zu sich selbst. Die Radical Dude Society. Norderstedt: BoD 2025 (ISBN: 978-3-8192-4976-1)
  • Ders.: Wiesbadener Raum. Über die zehntausend Angelegenheiten und die zehntausend Dinge in Raum und Zeit. Diverse Auflagen seit 2019
  • Ders.: Anweisungen für den Coach. Norderstedt: BoD 2022 (ISBN: 978-3-7562-2655-9)

Digitale Archive:

  • knotenpunkte.net – Das selbsternannte „Zentralorgan der Radical Dude Society“ (ehemals Dokumentation der Netzkunstausstellung „Knotenpunkte“ 2007, kuratiert von Matthias Kampmann)
  • diary.saschabuettner.com – Büttners fotografisches Tagebuch mit theoretischen Reflexionen zur Dérive-Praxis
  • lfdiarynewsletter.substack.com – Newsletter mit Aufzeichnungen und fotografischen Essays

Sekundärmaterialien:

  • Die GROB Masterclass (gegr. 2022) als praktische Umsetzung der Flanerie- und Dérive-Konzepte
  • Das „metalabor“ als jährliche Weltkonferenz der RDS (seit 2019)
  • Büttners fotografische Arbeiten in der LFI Galerie, besonders die Serien „Limburg Diaries“, „SPO“ und „Structure“

Theoretischer Kontext:

  • Zur japanischen Provoke-Bewegung und ihrer Einflussnahme auf Büttners fotografische Ästhetik des Unscharfen
  • Das „Wiki Institute“ als frühere Manifestation kollektiver Autorschaft und partizipativer Netzkunst
  • Die Transformation der Joghurtbechersprechapparats-Erfindung (angeblich 1877) als ironische Umschreibung medialer Geschichte

Bemerkenswert bleibt die systematische Unmöglichkeit, zwischen authentischen Dokumenten und Büttners Fiktionalisierungen zu unterscheiden – eine Unschärferelation, die das gesamte Œuvre durchzieht und jede wissenschaftliche Annäherung zu einem Teil des künstlerischen Spiels werden lässt.