Sascha Büttners digitale Fotografie zwischen Trashcam-Ästhetik und Webcam-Meditation
Die Frage, was ein Bild wert ist, dessen Sensor kaum imstande war, es aufzunehmen, führt ins Zentrum von Sascha Büttners fotografischer Praxis der frühen Nullerjahre. Zwei distinkte Werkphasen entfalten sich hier: GROB #003 (Digital Trash Punk) dokumentiert ein Archiv von über 250.000 Aufnahmen, entstanden zwischen 2001 und 2007 mit digitalen Trashcams – einer Logitech Pocket Digital 130 und einer Commodore Pen Cam 16, Geräte also, die als mobile Billigkameras konzipiert waren und deren technische Spezifikationen heute selbst Enthusiasten obsoleter Hardware ratlos zurücklassen. GROB #005 (Kleines Webcam-Brevier) wiederum systematisiert eine parallele Praxis: die Arbeit mit stationären Webcams, deren Bildproduktion Büttner ins Meditative wendet. Was beide Werkgruppen verbindet, ist eine Bilderzeugungspraxis im Modus der Verknappung – technische Ressourcenarmut als produktive Bedingung, Sensorinsuffizienz als epistemisches Prinzip.
I. Trashcam und Webcam: Eine Unterscheidung
Die Differenz zwischen Trashcam und Webcam ist medientheoretisch relevant. Die Trashcam – jene mobilen Billigkameras der frühen Digitalära – erlaubt dem Fotografierenden noch ein Minimum an Kontrolle: Er wählt den Ausschnitt, den Moment, den Standpunkt. In Büttners Terminologie: Der Fotograf als „Einbildner“ (ein Begriff, den er von Vilém Flusser übernimmt) bildet sich die Welt ein, gibt den Dingen Bedeutung – „es ist nicht umgekehrt!“, wie er in seinen Texten zur Fotografie insistiert. Die Webcam hingegen produziert automatisiert; sie ist Überwachungsgerät, das kontinuierlich Bilder generiert, indifferent gegenüber dem, was vor ihr erscheint. Büttner arbeitet mit beiden Apparaten, doch auf kategorial verschiedene Weise.
Die Trashcam-Aufnahmen entstehen durch aktives Fotografieren mit portablen Geräten. Die Motive – Frühstücksarrangements, Kaffeetassen, Fensterblicke, Straßenszenen – werden aufgesucht, komponiert (soweit die rudimentäre Technik dies erlaubt), ausgelöst. Das Webcam-Brevier hingegen reflektiert eine stationäre Apparatur, deren Bilder gewissermaßen von selbst entstehen. Der Unterschied liegt in der apparativen Handlungsmacht: Hier der Mensch mit Kamera, dort die Kamera ohne Mensch.
II. Poor Image, anders gedacht
Hito Steyerls einflussreicher Essay In Defense of the Poor Image (2009) beschreibt das „arme Bild“ als Effekt seiner Zirkulation: „as it accelerates, it deteriorates.“ Das Bild wird ärmer, indem es durchs Netz wandert, kopiert, komprimiert, herunterskaliert wird – ein gewordenes Mangelbild, dessen Ursprung reicher war. Helena Schmidt hat diesen Begriff für eine Poor Image Art Education weitergedacht: eine kunstpädagogische Praxis mit den zirkulierenden Bildern des Internets, „copies in motion“, die als Schwärme durch digitale Räume migrieren.
Büttners Trashcam-Bilder entziehen sich dieser Logik. Sie sind keine Kopien, die durch Weitergabe degradieren; sie starten im Zustand maximaler Armut. Die Körnigkeit ist originär, das Rauschen konstitutiv, die Unschärfe unhintergehbar. Es existiert kein reiches Original, von dem sie abstammen könnten. Was Steyerl als Prozess beschreibt – die graduelle Verarmung durch Zirkulation –, ist hier von Beginn an abgeschlossen.
Diese Differenz hat theoretische Konsequenzen. Das genesisch arme Bild (im Unterschied zum zirkulatorisch verarmten) wirft andere Fragen auf: Welchen dokumentarischen Wert besitzt eine Aufnahme, deren Sensor das Aufgenommene kaum erfassen konnte? Welche Evidenz produziert ein Bild, das mehr Artefakt als Abbild ist?
III. Vor Instagram
Die Motive der Trashcam-Phase lesen sich wie ein Katalog dessen, was später Content heißen wird: das Banalste aus der unmittelbaren Lebensumgebung. Büttner publiziert diese Aufnahmen auf Plattformen, deren Namen selbst Netzarchäologen kaum noch geläufig sind – alo.antville.org, später alo.aus7.org, thing-frankfurt.de, schließlich das von ihm gegründete Wiki Institute. Eine vagabundierende Distributionsstruktur, die sich durch die frühen Weblogs und Kunstserver bewegt, bevor die großen Plattformen (Facebook 2004, YouTube 2005, Instagram 2010) die Bildökonomie zentralisieren.
Was Büttner in diesen Jahren praktiziert, ist eine prä-algorithmische Selbstdokumentation. Die Bilder werden nicht für Likes optimiert, nicht nach Engagement-Metriken komponiert, nicht für maximale Reichweite aufbereitet. Sie entstehen aus einer Haltung, die Sara Burkhardt als „aktive Teilnahme an der Welt“ beschrieben hat, allerdings vor jener Plattformlogik, die diese Teilnahme später in verwertbare Daten transformieren wird. Der „Feed“ existiert noch nicht als ästhetisches Format; das „Posten“ ist noch kein performativer Akt mit kalkulierbaren sozialen Effekten.
Diese Vorzeitigkeit verleiht den Arbeiten ihren eigentümlichen Status. Sie antizipieren etwas, dessen Logik sie zugleich verfehlen: die Social-Media-Bildkultur, deren formale Merkmale sie vorwegnehmen (Alltagsmotive, serielle Produktion, digitale Distribution), ohne deren ökonomische Rationalität zu kennen. Die Plattformen verschwanden; die Bilder blieben arm.
IV. Netzkunst und Netzkritik
Das Projektwissen dokumentiert Büttners frühe Positionierung zur Netzkunst, etwa in den Debatten um das Serverfestival (2002). In einer Mail-Korrespondenz jener Jahre heißt es: „Netzkunst bringt nicht den Browser zum zappeln sondern das Netz zum wackeln.“ Diese Formel unterscheidet zwischen Kunst im Netz – bloße Nutzung des Internets als Distributionskanal – und Netzkunst im emphatischen Sinne: Arbeit an den Strukturen, Protokollen, Codes des Netzwerks selbst.
Büttners Trashcam-Praxis situiert sich irritierend zwischen diesen Polen. Einerseits nutzt sie das Netz als Publikationsort, ohne dessen technische Grundlagen zu befragen. Andererseits operiert sie mit Bildmedien, deren Armut selbst ein strukturelles Statement darstellt: Die Trashcam als unterste Ebene digitaler Bildproduktion reflektiert – wenn auch implizit – die Materialitäten des Netzes, seine Bandbreitenbegrenzungen, Kompressionsalgorithmen, die physischen Infrastrukturen, die jedes digitale Bild durchlaufen muss.
Was die Serverfestival-Diskussionen als Forderung formulieren – „etwas definieren, nicht sich auf den trampelpfaden bewegen, eher pionier sein, neue wege anlegen“ – realisiert die Trashcam-Praxis durch Unterbietung. Der Weg führt nicht zu höherer Auflösung, besseren Sensoren, elaborierteren Bearbeitungsmöglichkeiten. Er führt in die Gegenrichtung: hinab zum Minimum dessen, was noch Bild heißen kann. Die Trashcam bringt das Netz nicht zum Wackeln, aber sie macht dessen materielle Bedingungen sichtbar.
V. Der Reisende: Konzeption und Ausstieg
Das Projekt Der Reisende (www.der-reisende.org), das Büttner ab 2001 als Mitgründer und künstlerischer Impulsgeber konzipiert, steht in produktiver Nähe zum Wiesbadener Raum, ohne dessen integraler Bestandteil zu sein. Das Projekt funktioniert so: Orte werden aufgesucht, an denen öffentliche Webcams selbsttätig Bilder erzeugen und ins Netz übertragen. Dort angekommen, stellt sich eine Person – der „Reisende“ – in stets gleicher Pose und wiedererkennbarer Kleidung in den Bildraum der Kamera. Und schaut zurück.
Büttners konzeptuelle Leistung liegt in der Strukturierung dieser Intervention. Die Webcam, die den Reisenden aufnimmt, weiß nichts von seiner Anwesenheit; sie produziert Kontrollaufnahmen, in die sich der Performer einschreibt wie ein Störsignal. Ein Fotograf nimmt das Bild via Internet auf: er speichert das übertragene Bild, bevor es vom nachfolgenden überschrieben wird und verloren geht.
Um 2003 steigt Büttner aus dem Projekt aus. Es war, aus seiner Sicht, durchdekliniert – die konzeptuelle Struktur stand, die Variationsmöglichkeiten waren ausgereizt. Hinzu kamen Differenzen in der Arbeitsweise: Jens Sundheims Bestrebung, das Projekt in ein klassisches Autor-Werk-Konstrukt zu überführen, kollidierte mit Büttners Vorstellung kollektiver Praxis. Die Unfähigkeit zum Kollektiv, so ließe sich sagen, beendete die Zusammenarbeit. Dass Sundheim das Projekt bis heute weiterführt, ist eine andere Geschichte.
Diese Haltung – das Beenden, wenn die Form gefunden ist oder die Bedingungen nicht mehr stimmen – relationiert sich aufschlussreich zu den Trashcam-Aufnahmen. Dort ist der Fotografierende hinter der Kamera, hier steht der Performer vor ihr; dort werden insuffiziente Bilder aktiv produziert, hier lässt sich jemand von fremden Kameras abbilden. Beide Praktiken kreisen um dieselbe Frage: Was bedeutet es, von einem Sensor erfasst zu werden, dessen Kapazitäten kaum ausreichen, um das Erfasste zu registrieren? Die Sichtbarkeitsschwelle des Digitalen – jener Punkt, an dem das Bild gerade noch Bild ist, bevor es in Rauschen zerfällt – wird in beiden Fällen ausgelotet.
VI. Webcam-Brevier: Meditation der Restriktion
GROB #005, Kleines Webcam-Brevier, systematisiert eine eigene Werkgruppe, die sich von den mobilen Trashcam-Aufnahmen unterscheidet. Das „Brevier“ – liturgisches Format der Stundengebete – verweist auf repetitive, ritualisierte Handlung. Die Webcam als Andachtsgerät; das Beobachten ihrer Bildproduktion als kontemplative Übung; die technische Knappheit als Exerzitium.
Diese quasi-monastische Rahmung korrespondiert mit Büttners Reflexionen über photographische „Meisterschaft“ in den Texten zur Fotografie: „Derjenige, der überlegt und den Fotoapparat betätigt mit der Absicht, eine Fotografie anzufertigen, geht an der Kunst der Fotografie vorbei, während der, der denkt und den Fotoapparat ohne solch ein Ziel betätigt, der hat die Kunst der Fotografie erreicht. Seine Hand wird nicht steif, sein Herz wird nicht kalt werden.“ Die Webcam radikalisiert diese Haltung: Hier ist der Auslöser gar nicht mehr zu betätigen, die Kamera produziert von selbst, der Beobachter wählt lediglich aus dem Fluss der Bilder.
Die stationäre Kamera produziert unablässig; der Betrachter speichert, verwirft. Jede Intervention ist eine Geste der Aufmerksamkeit, die sich ihrer Resultate nicht versichern kann. „Wenn die Konzentration auch nur für einen kurzen Moment nachläßt, ist alles verloren“ – so Büttners Maxime, die bei der Webcam eine paradoxe Wendung erfährt: Die Konzentration gilt nicht mehr dem Augenblick der Aufnahme, sondern dem Augenblick der Auswahl aus dem bereits Aufgenommenen.
VII. Schwarzweiß-Konversion und die Frage des Archivs
Für GROB #003 werden die Trashcam-Aufnahmen in Schwarzweiß konvertiert – ein Eingriff, der ihre Historizität steigert und zugleich ausstellt. Die Farbinformation, ohnehin degradiert in den Originalaufnahmen (sämtlich in Farbe), wird vollständig entzogen. Was bleibt, sind Grauwerte, Konturen, das digitale Korn. Die Konversion erzeugt einen eigentümlichen Pseudo-Dokumentarismus: Die Bilder wirken älter, bedeutsamer, archivarischer, als sie sind.
Diese Nachträglichkeit ist aufschlussreich. Die Trashcam-Phase erscheint in der Publikation bereits als abgeschlossen, musealisiert, für die Rezeption aufbereitet. Der wilde Produktionsprozess – täglich dutzende, hunderte Aufnahmen, verteilt über diverse Plattformen – wird in die stabile Form des gedruckten Buches überführt. Das GROB Magazin, das Büttner um 2000 gründete, fungiert hier als Archivierungsapparat, der die flüchtigen Netzbilder fixiert und dem Verschwinden entreißt.
Denn die ursprünglichen Publikationsorte existieren größtenteils nicht mehr – Server abgeschaltet, Domains verfallen. Das Netz, dessen vermeintliche Permanenz die Euphorie der frühen Jahre nährte, erweist sich als flüchtiger denn das Papier. Die Schwarzweiß-Konversion wird so auch zum Akt der Bergung: Überführung des Digitalen ins Analoge, bevor das Digitale sich selbst löscht.
VIII. Pixel-Prekarität
Büttners Arbeiten mit Trashcams und Webcams artikulieren eine Position, die sich mit dem Begriff der Pixel-Prekarität fassen ließe: eine Existenzweise des Bildes an der Grenze seiner medialen Möglichkeiten. Das Bild ist prekär, weil seine technische Basis ungesichert ist – zu geringe Auflösung, zu viel Rauschen, zu wenig Detailschärfe. Es ist ständig gefährdet, ins Nicht-mehr-Bild abzugleiten, in reines visuelles Chaos.
Diese Prekarität verbindet sich mit jener sozialen Dimension, die Billigkameras und Webcams als Geräte auszeichnet. Sie demokratisieren den Zugang zur Bildproduktion, indem sie ihn zugleich degradieren. Im Unterschied zur professionellen Digitalfotografie, die massive ökonomische Ressourcen voraussetzt (Kamera, Objektive, Software, Know-how), verlangen Trashcam und Webcam fast nichts. Ihre Bilder sind arm, weil ihre Nutzer arm sind – oder weil sie sich strategisch so positionieren.
Büttner, der durchaus über professionelle Fotoausrüstung verfügt (die Quellen nennen eine Leica M6 Titanium, Rodenstock-Vergrößerungsobjektive, elaborierte Dunkelkammerausstattung), wählt die Billiggeräte als bewusstes Downgrade. Die Armut des Bildes ist hier Methode, nicht Mangel.
IX. Was zeigt das degradierte Bild?
Die Antwort führt zurück zu Büttners Position, dass Fotografie immer subjektiv sei, „zumindest der Akt des Fotografierens“. In den Texten zur Fotografie notiert er: „Es ist also abwegig zu meinen, man würde das da draußen, die Wirklichkeit, mit dem Fotoapparat abbilden können.“ Das insuffiziente Bild radikalisiert diese Einsicht: Es zeigt, dasses zeigt, aber kaum was es zeigt. Es stellt seinen eigenen Repräsentationsanspruch aus, indem es ihn zugleich unterläuft.
Büttner beschreibt den Einbildner als jemanden, der „auf die Welt zeigt (er schießt sogar) und den Dingen Bedeutung gibt“. Mit der Trashcam geschieht diese Bedeutungsgebung unter erschwerten Bedingungen: Das technische Bild verweigert sich der ontologischen Festlegung, es kann keine „allgemein gültige Definition“ seines Gegenstands liefern. Was bleibt, ist die „subjektive Einbildung“ – ein Modell dessen, was vor der Kamera war, evoziert durch „ikonisches Wissen“.
In diesem Sinne operieren Büttners Arbeiten tatsächlich als Netzkunst. Sie reflektieren die materiellen Bedingungen des Netzes: Kompression, Bandbreite, Speicherökonomie, die physischen Substrate, die jeden Datenstrom tragen.
X. Conclusio: Sensormönchtum
Das Kleine Webcam-Brevier entwirft die Kontur einer kontemplativen Praxis des Unzureichenden. Das Bildarchiv der Trashcam-Phase wiederum dokumentiert eine andere Übung – mobiler, aktiver, doch ebenso der Logik der Knappheit verpflichtet.
„Um auf die richtige Art und Weise Fotografien anzufertigen“, schreibt Büttner in den Texten zur Fotografie, „muss das Licht der tiefen Wirklichkeit eines Dinges in eurer Sicht aufblitzen. Dann, in diesem Moment, müsst ihr den Auslöser drücken und das Ding festhalten, bevor es verblaßt.“ Die Trashcam unterläuft diese Metaphysik des entscheidenden Augenblicks – ihr Sensor ist zu arm, um irgendetwas festzuhalten, bevor es verblasst. Was festgehalten wird, ist bereits verblasst. Das Bild zeigt das Verblassen selbst.
Die Fotografie, einst Medium der Evidenz („Das-ist-gewesen“, Barthes), wird zur Praxis der Skepsis. Das Bild, das kaum zeigt, was es aufnahm, verweist auf die Kontingenz jeder Repräsentation. Die Armut des Trashcam- und Webcam-Bildes wird so zur Form von Wahrhaftigkeit. Gerade weil es seine Insuffizienz ausstellt, lügt es weniger als das perfekte Bild, das seine Gemachtheit verbirgt. Was Büttner mit obsoleten Sensoren und Billigst-Hardware betreibt, ist eine Phänomenologie der photographischen Schwundstufe: Reduktion auf das Minimum dessen, was ein Bild noch sichtbar zu machen vermag – und in dieser Reduktion: Sichtbarmachung dessen, was die optimierte Fotografie unsichtbar macht.
Der Artikel bezieht sich auf GROB #003 (Digital Trash Punk, 2019), GROB #005 (Kleines Webcam-Brevier, 2019), GROB #009 (Texte zur Fotografie), das Projekt „Der Reisende“ sowie auf Hito Steyerls „In Defense of the Poor Image“ (e-flux, 2009) und Helena Schmidts Konzept einer „Poor Image Art Education“ (zkmb, 2018).