Traceroute ins Unbestimmte

Sascha Büttners und Matthias Kampmanns Netz-Performance »so werden wir bremen nie erreichen« (2006)

Am 21. Oktober 2006 ereignete sich im digitalen Raum des Wiki Institute eine Performance, deren Bedeutung für die Geschichte der Netzkunst erst retrospektiv vollständig erkennbar wird. Sascha Büttner und Matthias Kampmann realisierten mit »so werden wir bremen nie erreichen« jene konsequente Synthese aus diskursiver Praxis und medialer Selbstreflexion, auf die Büttners Œuvre seit den frühen Performances der achtziger Jahre hingearbeitet hatte. Die Arbeit steht in direkter genealogischer Linie zu der zwischen 1985 und 1994 entwickelten Serie »Der Natur ihr Geheimnis entlocken«, deren rituelle Strukturen und epistemische Verunsicherungen sie ins Digitale transponiert – und sie entfaltet Nachwirkungen, die sich noch Jahrzehnte später in Büttners literarischem Werk sedimentieren.

Die Arbeit operiert mit einer eigentümlichen Dialektik: Während der Titel eine Ankunft negiert, die selbst im metaphorischen Horizont verbleibt, produziert die Performance unablässig Bewegungssignale – Traceroutes, Mitfahrgelegenheiten, Wegbeschreibungen, IP-Adressen –, die sämtlich ins Leere laufen. Bremen erscheint als Zielkoordinate einer Routenfetischisierung, deren technische Präzision in groteskem Kontrast zur programmatischen Unerreichbarkeit steht. Die Stadt validieren, so heißt es im Quellentext, müsse man zuvorderst – doch diese Validierung scheitert systematisch, wird zur Allegorie auf die fundamentale Unabschließbarkeit netzbasierter Kommunikation.

Genealogie: Von der Plastiktüte zum Traceroute

Die strukturelle Verwandtschaft zwischen »so werden wir bremen nie erreichen« und der Performance-Serie »Der Natur ihr Geheimnis entlocken« erschließt sich bei genauer Betrachtung als notwendiger Entwicklungsschritt. Als sich Büttner 1987 in Spanien eine Plastiktüte über den Kopf stülpen ließ, um sich blind durch eine ihm unbekannte Landschaft zu tasten – hoppelnd, krabbelnd, robbend, bis der letzte Besucher gegangen war –, etablierte er jene Orientierungsentbindung, die zwei Jahrzehnte später im Traceroute ihre digitale Entsprechung findet. Beide Arbeiten operieren mit der systematischen Desorientierung als Erkenntnismodus: Wo der frühe Büttner die physische Raumwahrnehmung suspendierte, blockiert die spätere Arbeit die Zielankunft auf infrastruktureller Ebene.

Die Performance von 1985 bei Köln, bei der Büttner stundenlang Eisenstäbe mit einem »Urrad« durch Kordeln verband, um dann das Rad zu drehen und wortlos zu gehen – »zurück blieben etliche verstörte Beobachter« –, antizipiert die Verknüpfungslogik der Netzkunst-Performance: Knotenpunkte werden etabliert, Verbindungen gespannt, ohne dass sich ein sinnhaftes Muster erschließt. Die Traceroute-Visualisierungen in »so werden wir bremen nie erreichen« reproduzieren diese Struktur im technischen Register: IP-Adressen als digitale Pflöcke, Latenzzeiten als gespannte Kordeln, die Route selbst als ephemeres Netz, das beim ersten Verbindungsabbruch reißt.

Selbst die Taunus-Performance von 1990, »dem Wild auflauern«, mit ihren vermummten Akteuren, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang verharrten und ihre Gewehre auf unbestimmte Ziele richteten – »es wurde kein einziger Schuss abgegeben« –, findet ihr Echo in der gespannten Erwartung der Netz-Performance: Bremen als Ziel im Visier, das nie getroffen wird, die Route als zielloses Anvisieren, das sich im Harren erschöpft.

Konversationelle Netzkunst als Gattungskulmination

Büttner hatte in den Jahren zuvor ein Arsenal an Formaten entwickelt, das die Netzkunst von ihrer naiven Technikbegeisterung befreite. Die Mailbox-Ausstellungen der späten Bundesrepublik, als BBS-Systeme noch die einzige Infrastruktur für digitale Kunstdistribution boten, etablierten bereits jene Latenzpoetik, die später zum Signum seiner Praxis werden sollte: Kunst, die ihre Wirkung aus der Verzögerung, dem Rauschen, der technischen Fragilität bezog, statt diese zu kaschieren. Das ab 2002 mit Florian Merkur und anderen initiierte Serverfestival radikalisierte diesen Ansatz, indem es die Frage, was ein Serverfestival überhaupt sei, zum eigentlichen Gegenstand der Veranstaltung machte. Die vier Theoreme – Serverfestival ist immer, Serverfestival ist ein diskursiver Selbstverweis, Serverfestival hat schon begonnen, schafft ein zwei drei viele Serverfestivals – konstituierten eine Praxis der Definitionsverweigerung, die sich ihrer institutionellen Fixierung permanent entzog.

»so werden wir bremen nie erreichen« kulminiert diese Entwicklungslinie. Die Performance verschmilzt die Mailbox-Erfahrung mit dem diskursiven Grundgestus des Serverfestivals und erweitert beides um eine neue Dimension: die Kollaborationsontologie des Künstler-Kritiker-Dialogs. Kampmann, seinerseits dreizehn Jahre Kunstkritiker und seinem Selbstverständnis nach Kunsthistoriker, tritt in ein Gespräch ein, das die traditionelle Rollenverteilung zwischen Produktion und Reflexion suspendiert. Die Korrespondenz zwischen beiden, die den Wochen vor der eigentlichen Performance vorausgeht, liest sich als Laborprotokoll einer Begegnung, in der die Frage nach dem Eigenen und dem Gemeinsamen – wie viel Einfluss, Durchdringung das Eigene verträgt – zum obsessiven Reflexionsgegenstand wird.

Mutualität und Produktion

Der Bezug auf Taurecks Mutualitätskonzept, den Kampmann in der vorbereitenden Korrespondenz etabliert, situiert die Performance in einem begriffsgeschichtlichen Horizont, der weit über den digitalen Kontext hinausreicht. Mutualität als Güteraustausch, der auch immateriell sein konnte – diese Formulierung trifft den Kern dessen, was die konversationelle Netzkunst leistet. Der Austausch zwischen Büttner und Kampmann produziert Wert, ohne dass dieser in irgendeiner Währung quantifizierbar wäre. Was zirkuliert, sind Vorstellungen, Thesen, Gedankensplitter, die sich weder als Eigentum noch als Kollektiveigentum fassen lassen.

Büttners Intervention liegt in der radikalen Konsequenz, mit der er die Produktionsenthaltung als Option durchspielt. Die Referenz auf Antje Eske und Kurd Alsleben – die formuliert hatten, dass nichts produziert werden müsse – entfaltet er zur Grundsatzfrage: Lässt sich die Mutualität aufrechterhalten, wenn gleichzeitig für eine Ausstellung produziert wird? Die Antwort, die »so werden wir bremen nie erreichen« implizit gibt, lautet: durch die Transformation des Produkts in reinen Prozess. Das Happening – so die Werkbezeichnung – generiert keine abschließbaren Artefakte, sondern dokumentiert seine eigene Entstehung, ohne diese Dokumentation je zur Ruhe kommen zu lassen.

Technische Topografie als ästhetisches Material

Die vielleicht kühnste Geste der Performance besteht in der Integration technischer Diagnosewerkzeuge ins ästhetische Register. Die Traceroutes, die den Weg von Stuttgart über Frankfurt und Hannover nach Bremen nachzeichnen, erscheinen als konkrete Poesie einer Netzwerktopologie, deren Knoten – xr-stu1-ge8-5.x-win.dfn.de, xr-fra1-te3-3.x-win.dfn.de – eine eigene Semantik entwickeln. Die Sequenz von Latenzmessungen (347ms, 147ms, 100ms) rhythmisiert das Textfeld, als handle es sich um metrische Einheiten eines Langgedichts. Dass die Route zur Kunsthalle Bremen bei Hop 13 abbricht – »* * *« als Zeichen gescheiterter Paketzustellung –, verdichtet die titelgebende Proposition zur technischen Evidenz: So werden wir Bremen tatsächlich nie erreichen.

Diese Infrastrukturlektüre steht in produktiver Spannung zur parallel montierten Akkumulation von Mitfahrgelegenheits-Inseraten, die aus dem Leipziger Kleinanzeigenmarkt stammen. »Suche MFG Leipzig – Göttingen«, »Fahre am 22.12 von Leipzig nach Dresden«, »Biete Citynightlinerticket von Leipzig bis Basel« – der banale Alltagspragmatismus dieser Gesuche kontrastiert mit der technischen Abstraktion der IP-Protokolle, ohne dass eine Hierarchie zwischen beiden etabliert würde. Büttner und Kampmann praktizieren eine Äquivalenzmontage, in der das Datagramm und das Mitfahrgesuch denselben ontologischen Status einnehmen: beides sind Bewegungsversprechen, die ihre Einlösung schuldig bleiben.

Systemkritische Immanenz

Büttners Bekenntnis zur systemkritischen Haltung – nur sie biete ausreichend Distanz und damit Reflexionsmöglichkeiten über das eigene Tun – artikuliert eine Position, die die konversationelle Netzkunst von affirmativen Partizipationsmodellen unterscheidet. Die Performance reflektiert ihre eigenen Produktionsbedingungen, ohne diese Reflexion als Alibi zu missbrauchen. Wenn Büttner notiert, seine Produktionsumgebung sei derzeit nicht optimal, seine persönliche Disziplin lasse zu wünschen übrig, dann fungiert diese Selbstauskunft als Prekarisierungsprotokoll, das die ökonomischen und psychosozialen Rahmenbedingungen künstlerischer Arbeit in den Werkzusammenhang integriert, statt sie zu invisibilisieren.

Die Frage nach der Rollenauflösung, die Kampmann aufwirft, führt zum Kernproblem kollaborativer Praktiken: Unterscheidet das Gespräch zwischen Künstler und Kunsthistoriker sich von anderen Kollaborationsnetzwerken – Distributed Creativity, Free Cooperation? Büttners Antwort verweigert die erwartbare Distinktion. Was die Praxis auszeichnen könnte, sei die Verknüpfung von Themensträngen, die Befragung des mutualen Schaffens in gesellschaftlicher, philosophischer und ökonomischer Hinsicht. Keine Alleinstellungsmerkmale werden herausgearbeitet, vielmehr die Einbettung in größere Zusammenhänge betont.

Das Happening als Verweigerungsform

»so werden wir bremen nie erreichen« schließt den Kreis, den Büttner mit dem Wiesbadener Raum eröffnet hatte: ein Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst, das sich selbst zum Gegenstand der Erforschung macht. Die Performance operiert mit jener Autoreflexivitätsschleife, die für die Netzkunst der zweiten Generation charakteristisch ist – nach dem heroischen Pioniergestus der neunziger Jahre, nach dem Crash der New Economy, nach dem Übergang vom BBS zum WWW zum Social Web. Was bleibt, wenn die technischen Utopien enttäuscht sind, ist das Gespräch selbst, die Mutualität des Austauschs, die sich keiner Verwertungslogik fügt.

Die Wahl des Wiki Institute als Plattform unterstreicht diesen Gestus. Das legendäre digitale Institut, von Büttner gegründet, fungiert als institutionelle Mimesis, die sich ihrer eigenen Fiktionalität bewusst ist. Hier, im Rahmen der Netzkunstaffairen, die im Swiki der HFBK Hamburg dokumentiert sind, ereignet sich eine Form kollektiver Autorschaft, die weder im Genie-Modell der Moderne noch in der anonymen Schwarmproduktion des Web 2.0 aufgeht. Büttner und Kampmann signieren gemeinsam, bleiben dabei als Stimmen unterscheidbar, ohne dass diese Unterscheidbarkeit in Hierarchie umschlägt.

Die konversationelle Netzkunst erreicht mit dieser Performance ihren Kulminationspunkt – einen Punkt allerdings, der kein Ziel markiert, sondern die strukturelle Unerreichbarkeit jedes Ziels demonstriert. Bremen, die Short-Way-City, in der man sein Ziel angeblich schneller erreicht als woanders, bleibt unerreichbar, weil die Bewegung selbst zum Inhalt geworden ist. Was zählt, ist die Traceroute, nicht die Ankunft; das Mitfahrgesuch, nicht die Fahrt; das Gespräch, nicht dessen Abschluss.

Nachklänge: Von der Performance zur Prosa und Fototheorie

Die Motive von »so werden wir bremen nie erreichen« verschwinden nach 2006 keineswegs aus Büttners Werk, sondern sedimentieren sich in späteren Texten als wiederkehrende Obsessionen – sowohl in der Prosa als auch in den fototheoretischen Schriften. Im Kapitel »Flucht« des Büttner-Romans erscheint Bremen als unheimliche Wiedergängerin der Performance: »Es zieht Büttner nach Bremen, obwohl er nie nach Bremen wollte, diese Stadt, die wie ein Fehler im Code liegt, ein Bug, der zum Feature wurde.« Die algorithmische Sprache – Bug, Feature, Code – verweist auf die technische Genealogie der Obsession, während die Formulierung »obwohl er nie nach Bremen wollte« das programmatische Nicht-Ankommen der Performance narrativiert. Bremen fungiert hier als Attraktorkonfiguration, ein Ziel, das gerade durch seine Unerreichbarkeit anzieht.

Die »Fahrt nach Bremen erfolgt in einem Zustand, den Büttner nicht als Entscheidung bezeichnen würde, sondern eher als Vollzug eines Algorithmus«: Diese Passage transformiert die kollaborative Freiheit der Performance in deterministische Unfreiheit, behält jedoch die Grundstruktur der zwanghaften Bewegung ohne Ankunft bei. Die A1 »wegschmilzt in jener hypnotischen Monotonie«, während die Traceroutes der Performance in Autobahnkilometer übergehen – unterschiedliche Register derselben Transferobsession.

In »Über das Verschwinden« reflektiert Büttner das Motiv auf einer höheren Abstraktionsebene. Die Texte artikulieren »die Sehnsucht nach Verschwinden in einer Welt, die von jedem verlangt, permanent präsent zu sein« – eine Diagnose, die das Nicht-Ankommen der Performance als Widerstand gegen die »Tyrannei der Sichtbarkeit« lesbar macht. Die Unerreichbarkeit Bremens wird zur Unerreichbarkeit des Selbst: Büttners Figuren »wandern durch europäische Städte wie Zombies durch ein Einkaufszentrum: ziellos, aber mit der vagen Hoffnung, irgendwo etwas zu finden, was sie erlöst.« »Wahre Subversion«, so Büttner, »liegt heute nicht im Skandal, sondern im Schweigen. Nicht im Schreien, sondern im Verschwinden.« Die Performance von 2006 erweist sich retrospektiv als Urszene dieser Erlösungstopografie – einer Kartierung von Orten, die gerade dadurch Bedeutung gewinnen, dass sie sich der Ankunft entziehen.

Die fototheoretischen Arbeiten, kulminierend in »Texte zur Fotografie« (GROB #009), übersetzen diese Problemstellung ins Bildliche. Büttner entwickelt dort eine Theorie der drei Ebenen jeder Fotografie: »der referenten, der Formensprache und des abstrakten Moments, der jeder Fotografie innewohnt: das Existieren von der Welt, die mechanische Reproduzierbarkeit der Planperspektive.« Die Fotografie erscheint als »Versuch, der Transzendenz zu entkommen« – ein »trüber Schatten des Raumes«, in dem »Menschen und Dinge in einem Paradoxon aus Präsenz und Abwesenheit« existieren. Diese Formulierung spiegelt exakt die Struktur der Netz-Performance: Bremen ist präsent als Ziel und abwesend als Ankunft, die Traceroute dokumentiert eine Bewegung, die ihr Objekt verfehlt.

Büttners frühe Notiz zum Fotografieren von 1990 antizipiert die Logik der Performance: »Ich nahm mir vor, in der Stadt umherzuschweifen und mich hin und wieder von Personen mit meiner eigenen automatischen Kamera vor irgendeinem Gebäude oder einer Statue ablichten zu lassen. Was würden die Fotografien zeigen? Was würden sie bedeuten? Gab es da einen Unterschied?« Die Frage nach dem Unterschied zwischen Zeigen und Bedeuten strukturiert auch »so werden wir bremen nie erreichen«: Die Traceroutes zeigen den Weg, bedeuten aber das Scheitern; die Mitfahrgesuche zeigen Bewegungswünsche, bedeuten aber Stillstand. Büttners Diktum, dass »derjenige, der überlegt und den Fotoapparat betätigt mit der Absicht, eine Fotografie anzufertigen, an der Kunst der Fotografie vorbeigeht«, findet sein Pendant im performativen Nicht-Ankommen: Wer Bremen erreichen will, verfehlt den Sinn der Reise.

Der Essay »Grenzen überschreiten, ohne anzukommen« – der Titel selbst ein Echo auf »so werden wir bremen nie erreichen« – beschreibt Europa als »Kontinent der Übergänge«: »Man kann täglich eine neue Sprache sprechen, eine neue Identität annehmen, ein neuer Mensch werden.« Die Mitfahrgelegenheits-Inserate der Performance, mit ihren Abfahrten nach Rumänien, Dänemark, Basel, antizipieren diese nomadische Vision eines Europas der permanenten Passage. Doch während die Performance noch die Ironie der Unerreichbarkeit artikuliert, kippt die spätere Prosa ins Elegische: »Das Europa, das Büttner beschreibt, existiert nur für Leute mit deutschen Pässen und genug Geld für Interrail-Tickets.« Die Freiheit des Nicht-Ankommens erweist sich als Privileg – »das Privileg des Verschwindens«, wie es in »Über das Verschwinden« heißt: »Nur wer sicher ist, kann es sich leisten, unsicher zu werden.«