: Sascha Büttners Unschärferelation-Performances als Praxis der kalkulierten Illegibilität

I.
Wenn Sascha Büttner seine jüngste Performance-Reihe Unschärferelation nennt, zitiert er ein physikalisches Grundprinzip, das die epistemologischen Grenzen aller Beobachtung markiert: Werner Heisenbergs Einsicht, dass Ort und Impuls eines Teilchens niemals gleichzeitig exakt bestimmbar sind – weil der Akt der Messung das Gemessene unwiderruflich verändert.
Was in der Quantenmechanik als mathematisch formalisierbare Grenze der Erkenntnis erscheint, transformiert Büttner in eine performative Strategie, die seine frühen Arbeiten der Reihe Der Natur ihr Geheimnis entlocken (1987-1994) konsequent fortschreibt und zugleich auf die Bedingungen einer durch algorithmische Überwachung konstituierten Gegenwart überträgt. Die Unschärferelationen operieren in einem paradoxen Doppelmodus: Sie sind gleichzeitig radikal undokumentiert und potenziell permanent dokumentiert – jedoch ausschließlich durch jene technologischen Infrastrukturen, deren kritische Analyse Hito Steyerl in ihrem Video-Essay How Not to Be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File (2013) als kunsttheoretische Grundlagenarbeit geleistet hat.
Büttners Maxime bleibt unverändert streng: nur wenige geladene Beobachter, keinerlei intentionale Dokumentation – außer der beabsichtigten Dokumentation durch Google Street View und Satellitensysteme.
Die Betonung liegt auf dem Adjektiv: Was beabsichtigt wird, ist nicht die Dokumentation selbst, sondern ihre Ermöglichung. Der Künstler liefert sich den automatisierten Blickregimen der Überwachungsökonomie aus, ohne über deren Aktivierung, Zeitpunkt oder Auflösungsqualität verfügen zu können. Diese Konstellation markiert die konsequente Fortführung einer Praxis, die Büttner bereits Anfang der 2000er Jahre mit dem Langzeitprojekt Der Reisende auslotete: Jens Sundheim, der sich seither von Hunderten öffentlich zugänglicher Webcams weltweit hat ablichten lassen, setzt dieses Werk bis heute fort – eine über zwei Jahrzehnte währende Befragung der Surveillance-Kamera-Ästhetik, die parallel zu verwandten Ansätzen etwa des Schweizers Kurt Caviezel verläuft, der intime Momente aus frei zugänglichen Überwachungsbildern kompiliert. Dass jüngere Positionen wie Tatu Gustafsson diese Strategien mit einer gewissen Geschichtsvergessenheit als Neuerfindung präsentieren, bestätigt nur die Dringlichkeit einer kunsthistorischen Verortung, die Büttners Pionierarbeit im Feld der delegierten Dokumentation angemessen würdigt.
II.

Eine solche Verortung muss bei den frühen Performances ansetzen, in denen Büttner die Grundfiguren seiner späteren Arbeit erstmals erprobte. Die Genealogie der Unschärferelationen reicht zurück zu jener denkwürdigen Performance in Spanien 1987, bei der sich Büttner eine Plastiktüte über den Kopf stülpen und sich dreimal im Kreis drehen ließ, um jegliche räumliche Orientierung zu verlieren und sich blind durch eine ihm unbekannte Landschaft zu tasten.
Die Performance endete erst, als der letzte Besucher gegangen war.
Diese strukturelle Wendung etablierte bereits das Prinzip der Beobachterabhängigkeit: Das Werk existiert nur solange, wie es beobachtet wird, aber es transformiert sich in dem Moment, da der beobachtende Blick erlischt. In der Taunuswaldperformance Der Natur ihr Geheimnis entlocken – dem Wild auflauern (1990) verfeinerte Büttner diese Konstellation. Vermummte Akteure verharrten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in ihren Positionen, visierten bisweilen etwas mit ihren Gewehren an, gaben aber keinen Schuss ab. Die geladenen Gäste durften sich nur auf dreißig Meter nähern – eine Distanz, die Identifikation verunmöglichte. Ob die Gewehre echt waren, blieb ungeklärt.
Die Szenerie erzeugte, so die übereinstimmenden Berichte, eine spannungsgeladene, geradezu weihevolle Atmosphäre: Ein Ereignis fand statt, dessen Gehalt sich der definitiven Feststellung entzog. Die Beobachter sahen etwas, ohne es sehen zu können. Das Auflauern als Kunstform produzierte jene Spannung zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit, die Büttner seither systematisch kultiviert.
III.
Hito Steyerls How Not to Be Seen beginnt mit einer Kamerafahrt über sogenannte Resolution Targets in der kalifornischen Wüste – Kalibrierungsmuster, mit denen das US-Militär die Auflösungsfähigkeit von Luftaufnahmekameras testete.
Die zentrale These des Essays: Sichtbarkeit ist eine Funktion der Auflösung. Was unterhalb der Auflösungsgrenze fällt, wird unsichtbar. „To become invisible, one has to become smaller than or equal to one pixel“, intoniert die Erzählerstimme. Für die hochauflösende Satellitenüberwachung bedeutet dies: kleiner als etwa dreißig Zentimeter. Steyerls Resolution Targets wurden 2006 außer Dienst gestellt, als analoge Fotografie ihre militärische Bedeutung verlor. Ihre Obsoleszenz markiert einen epistemologischen Umbruch: Das neue Regime der Sichtbarkeit operiert pixelbasiert, algorithmisch, automatisiert. Es braucht keine menschlichen Augen mehr, um zu sehen – es generiert operational images, die für Maschinen lesbar sind, ohne je von Menschen betrachtet zu werden.
Die Konsequenz ist paradox: In einer Welt totaler Bilderproduktion werden echte Menschen unsichtbar, während Datenspektren und Informationswolken immer präziser erfasst werden. Steyerl nennt dies die Dialektik einer „avalanche of digital images, which multiply and proliferate while real people disappear or are fixed, scanned and over-represented.“
IV.
Büttners Unschärferelationen übersetzen Steyerls Bildkritik in performative Praxis.
Die Arbeiten finden an Orten statt, die von Google Street View oder Satellitensystemen potenziell erfassbar sind – Landstraßen, Parkplätze, ländliche Wegkreuzungen. Der Künstler weiß nicht, wann und ob das Google-Fahrzeug passiert, ob ein Satellit gerade diese Koordinaten scannt, welche Auflösung zum Zeitpunkt der möglichen Aufnahme zur Verfügung steht. Er performt an der Grenze des Pixels, im Zwischenreich zwischen Sichtbarkeit und Illegibilität. Die wenigen geladenen Beobachter – selten mehr als drei oder vier Personen – fungieren als Zeugen eines Ereignisses, das möglicherweise niemals dokumentiert wird und dessen Dokumentation, falls sie existiert, möglicherweise niemals betrachtet wird.
Büttner inszeniert damit einen dreifachen Observationskoilaps: Erstens bleibt ungewiss, ob überhaupt eine maschinelle Dokumentation stattfindet. Zweitens bleibt, falls sie stattfindet, ungewiss, ob die Auflösung ausreicht, um die Performance als solche erkennbar werden zu lassen. Drittens bleibt ungewiss, ob je ein menschlicher Betrachter diese Bilddaten aufrufen, geschweige denn als Kunstwerk identifizieren wird.
V.
Was Büttner mit den Unschärferelationen vollzieht, lässt sich als Gegenvisualität durch Ambivalenz beschreiben – Steyerls Strategie der Resistance through Ambivalence, übertragen in eine radikalisierte Werkpraxis.

Wo Steyerl ihre Akteure in greenscreen-farbene Ganzkörperanzüge kleidet, um sie für die Chroma-Key-Technologie unsichtbar zu machen, operiert Büttner buchstäblicher: Er begibt sich in jene Zonen der Auflösungsunschärfe, in denen die physische Präsenz eines Körpers an die Grenze ihrer maschinellen Erfassbarkeit stößt. Die konzeptuelle Eleganz dieser Strategie liegt in ihrer Inversion der üblichen Dokumentationslogik. Kunstperformances seit den 1960er Jahren sind gewöhnlich auf ihre Dokumentation angewiesen – Chris Burden lässt sich anschießen, weil die Fotografie das Ereignis perpetuieren wird; Marina Abramović sitzt siebenhundert Stunden im MoMA, weil jeder Besucher zum potenziellen Fotografen wird. Die Performance produziert Bilder, die Bilder produzieren Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit produziert Kunstgeschichte.
Büttner bricht diese Kette an ihrer empfindlichsten Stelle: Er produziert Ereignisse, die möglicherweise Bilder produzieren, die möglicherweise nie betrachtet werden und deren Status als Kunst daher vollkommen unbestimmt bleibt.
VI.
In seinem monumentalen Wiesbadener Raum-Projekt hat Büttner seit den 1990er Jahren eine Praxis der strategischen Unsichtbarkeit entwickelt, die zwischen demonstrativer Abwesenheit und obsessiver Spurensicherung oszilliert.
Die Unschärferelationen schärfen diese Dialektik. Sie sind Demonstrationen einer Übersehbarkeit – eines Zustands, in dem der Künstler Spuren hinterlässt, die ins Nichts führen, eine Unsichtbarkeit durch strategische Bedeutungslosigkeit produziert. Der Witz der Unschärferelationen liegt darin, dass Büttner die Logik der Überwachung affirmativ gegen sich selbst wendet. Er benutzt die omnipräsente Bilderfassungsinfrastruktur als sein Dokumentationsmedium – allerdings eines, dessen Aktivierung er nicht kontrolliert, dessen Ergebnisse er nicht einsehen kann und dessen Archivierungspraxis ihm vollständig entzogen bleibt.
Die Performance delegiert ihre eigene Historisierung an ein System, das kein Interesse an Kunst hat, sondern Räume kartografiert, Verkehrsströme analysiert, militärische Aufklärung betreibt.
Falls Bilder von Büttners Performances in irgendeinem Google-Server oder NSA-Datenzentrum gespeichert sein sollten, existieren sie dort als bedeutungslose Nebenprodukte einer Überwachungsroutine – poor images im Sinne Steyerls, degradierte, komprimierte, ihrem ursprünglichen Kontext entrissene Bilddaten.
VII.
Die kunsthistorische Pointe dieser Strategie wird deutlich, wenn man sie mit der klassischen Land-Art-Dokumentation kontrastiert.
Robert Smithsons Spiral Jetty (1970) wurde von Anfang an fotografisch und filmisch dokumentiert, obwohl sie an einem entlegenen Ort am Great Salt Lake entstand. Die Dokumentation konstituierte das Werk als verfügbares Kulturgut, während das physische Objekt verfiel und unter dem steigenden Wasserspiegel verschwand. Bei Büttner fehlt diese intentionale Rahmung vollständig. Seine Performances am Straßenrand oder auf ländlichen Parkplätzen könnten, theoretisch, irgendwann auf Google Street View erscheinen – aber als unerklärliche Anomalie, als Bildfehler, als Rauschen im Datenstrom. Diese Akzeptanz des Nichtregistriertwerdens als gleichwertige Möglichkeit unterscheidet Büttners Praxis fundamental von jener „bourgeoise Sehnsucht nach Authentizität durch Papierlosigkeit“, die er selbst in seinen Schriften kritisiert hat – jener privilegierten Koketterie mit der Auslöschung, die vergisst, dass für Millionen Menschen die Nichtregistrierung keine ästhetische Kategorie, sondern eine existenzielle Bedrohung darstellt.
Die Unschärferelationen sind sich dieses Privilegs bewusst. Sie inszenieren keine romantische Flucht aus der Überwachung, sondern eine präzise Kartografie ihrer Grenzen.
VIII.
Der Titel Unschärferelation verweist auf Heisenberg, aber seine kunsttheoretische Reichweite geht über die physikalische Analogie hinaus.
Was Büttner demonstriert, ist eine fundamentale Unschärfe im Verhältnis von Ereignis und Dokument, von Werk und Rezeption, von Intention und Kontingenz. Die Performance findet statt – aber ob sie als Performance erkennbar wird, bleibt unbestimmt. Sie produziert möglicherweise Bilder – aber ob diese Bilder je als Kunstdokumentation lesbar werden, entzieht sich jeder Kontrolle. Sie hat Zeugen – aber diese Zeugen können das Werk nicht beglaubigen, weil dessen Status von einer maschinellen Instanz abhängt, die keine Autorität zur Kunstbeglaubigung besitzt. In dieser Konstellation vollzieht sich eine fundamentale Kritik am modernen Kunstbegriff.
Seit der Romantik gilt das Kunstwerk als intentionaler Akt eines schöpferischen Subjekts, dessen Bedeutung sich in der Rezeption durch ein verstehendes Publikum realisiert. Die Unschärferelationen zerschneiden beide Seiten dieser Relation: Der Künstler gibt die Kontrolle über die Dokumentation ab, das Publikum (sofern es je eines geben wird) erhält keine Hinweise darauf, dass es Kunst betrachtet.
Was bleibt, ist die reine Potenzialität eines Werks, das möglicherweise existiert, möglicherweise dokumentiert wurde und möglicherweise irgendwann, von irgendwem, als Kunst erkannt werden könnte.
IX.
Steyerls Video endet mit einer Lektion über das „Unsichtbarwerden durch Bildwerdung“ – die Einsicht, dass in einer vollständig mediatisierten Welt paradoxerweise jene am unsichtbarsten werden, die zu Bildern gerinnen.
Die Resolution Targets in der kalifornischen Wüste wurden vom Sand überwuchert; ihre Muster sind heute nurmehr als geisterhafte Spuren in alten Satellitendaten erkennbar. Die Kalibrierungswerkzeuge der analogen Überwachung sind selbst unter die Auflösungsgrenze der digitalen Überwachung gefallen. Büttners Unschärferelationen positionieren sich präzise an diesem historischen Umschlagpunkt. Sie sind Gedächtnisfiguren einer Bildkultur, die ihre eigenen Voraussetzungen vergessen hat – Performances, die mit der Möglichkeit ihrer Nichtdokumentation rechnen, weil sie wissen, dass auch die lückenloseste Überwachung blinde Flecken produziert.
Der Künstler operiert in diesen Lücken, an den Rändern der Sichtbarkeitsmaschine, dort wo die Auflösung gerade noch ausreicht oder gerade nicht mehr.
Dass diese Arbeiten kaum bekannt sind, liegt in ihrer Logik. Ihre Dokumentation existiert vielleicht in irgendeinem Datenzentrum – als Bildrauschen, als algorithmisch aussortierter Fehler, als Datenmüll. Oder sie existiert nicht. Beides wäre gleichermaßen konsequent. Die Unschärferelationen sind Performances für niemanden und für alle: für niemanden, weil kein intendiertes Publikum sie als Kunst wahrnimmt; für alle, weil jeder, der zufällig auf Google Street View einen einsamen Mann auf einer Landstraße sieht, möglicherweise gerade ein Kunstwerk betrachtet – ohne es zu wissen, ohne es wissen zu können.
Der Autor dankt dem Wiki Institute für Hinweise zur Werkgenese.