Versuch der Wiederholung

Büttner geht die Straße entlang, die Kamera vor der Brust, wobei er nicht fotografiert, was er sieht, sondern wartet, bis die Welt durch ihn hindurch fotografiert, während sein Körper zur bloßen Röhre für das Licht wird, die Stadt atmet durch ihn hindurch, er wird zum Medium, nicht mehr Fotograf, Durchgangsstelle zwischen den Welten, wobei sich die Frage stellt, ob er überhaupt noch da ist, wenn sich der Verschluss öffnet, diese Frage kehrt zurück, beharrlich wie ein Bilderstrom, der durch ihn hindurchfließt, als wäre er ein Sieb für Licht, und während er wartet, drei Uhr nachmittags, Bahnhof, seit einer Stunde steht er da, nichts passiert, er könnte fotografieren, die Erschöpfung, die Eile, die Leere zwischen den Zügen, aber stattdessen: Stillstand, das Warten wird zur Existenzform, nicht teleologisch, auf etwas hin, kontingent, einfach da sein, ohne Projekt, diese merkwürdige Suspension des Willens, die Sartre vielleicht als Ekel diagnostiziert hätte, die pure Faktizität des Daseins, ohne Rechtfertigung, und Büttner verlässt die Hauptstraße, biegt ohne Plan ab, seine Schritte folgen keinem Ziel, nur einer inneren Resonanz, die chronometrische Stadtzeit löst sich auf zugunsten einer qualitativen Temporalität, eine rote Ampel wird zur Gelegenheit, die Körpersprache wartender Menschen zu studieren, wobei er denkt, dass er nicht den dramatischen Höhepunkt fotografiert, das Gewöhnliche in Momenten seiner subtilen Transformation, ein Mann vor einem Schaufenster, der ins Leere blickt, nicht als entfremdeter Stadtbewohner lesbar, als jemand, der einen Moment der Reflexion praktiziert, während vier Uhr kommt, immer noch nichts, oder alles, das Licht verschiebt sich um Nuancen, die Schatten wandern minimal, ein Hund schnuppert am Mülleimer, eine Taube pickt Krümel, Banalitäten, die sich weigern, zum Motiv zu werden, sie sind einfach, diese brutale Selbstverständlichkeit der Welt, die keine Kamera braucht, um zu sein, und er spürt, dass fotografisches Wu Wei eine Art existenzielle Reduktion sei, dass der Fotograf die Intention einklammere, das Projekt suspendiere, zum reinen Bewusstsein-von-etwas werde, ohne das Etwas greifen zu wollen, phänomenologische Askese, er lauscht, schnuppert, tagträumt, anders als die Flaneure, die sammeln, er sammelt nicht, verweilt in der Schwebe zwischen Möglichkeit und Verwirklichung, und dabei läuft er durch die Gassen, die Kamera fest in der Hand, wobei er bemerkt, dass das Histogramm Berge und Täler der Helligkeitsverteilung zeigt, Belichtungskorrektur +0,7 EV, die Welt wird messbar heller, ein Rotkehlchen landet vor der Linse, und er weiß, dass die Speicherkarte 128 Gigabyte fasst, theoretisch 40.000 RAW-Dateien oder 160.000 JPGs oder, in anderen Einheiten gemessen: 12 Jahre täglicher Fotopraxis oder ein einziges Wochenende bei einer Hochzeit, wobei ihm durch den Kopf geht, dass Tiere nicht wissen, dass sie fotografiert werden, dass sie deshalb vielleicht authentischer sind, oder dass Menschen, die wissen, dass sie fotografiert werden, ehrlicher in ihrer bewussten Pose sind, das Paradox der Beobachtung: alles verändert sich, sobald es betrachtet wird, alles verändert sich, sobald es betrachtet wird, alles verändert sich, und er begreift, dass er langsam geht, radikal entschleunigt in einer Stadt der permanenten Beschleunigung und digitalen Zerstreuung, dass der Sucher zum meditativen Instrument wird, das die Wahrnehmung gleichzeitig fokussiert und entspannt, während das Sehen durch die Kamera eine eigentümliche Verdopplung erfährt, die sich zu einer hybriden Präsenzoptik verschränkt, weder rein menschlich noch rein technisch, eine neue Form des dokumentarischen Sehens entwickelt, wobei fünf Uhr kommt, das Licht kippt, plötzlich diese eigenartige Transparenz der Luft, golden hour, heißt es technisch, er fotografiert nicht, noch nicht, die Schönheit muss erst durch ihre eigene Kontingenz hindurch, dann: eine Bewegung, ein Kind läuft seinem Schatten hinterher, stolpert, lacht, der Finger bewegt sich zur Kamera, stoppt, das wäre zu einfach, zu ikonisch, Kinderlachen im Gegenlicht, kitschig, also wartet er weiter, bis das Kind verschwunden ist, bis nur noch der Schatten da ist, schattenlos, und er fragt sich, ob er überhaupt noch da ist, ob er überhaupt noch da ist, ob er überhaupt noch da ist, wenn sich der Verschluss öffnet…

…und in der Frühe, während die Welt noch zwischen Schlaf und Erwachen verharrt, macht sich Büttner fertig, Kaffee, Auftakt einer Morgen-Choreografie, die sich täglich neu inszeniert, obwohl das Wort die Komplexität dessen, was sich da vollzieht, kaum erfasst, wobei sich frischmachen in einer präzisen Dramaturgie entfaltet: Gesicht waschen, während der Körper noch in den Nachwehen des Schlafs gefangen ist, eventuell den Körper mit einem rauen Waschlappen abreiben, eine Praxis, die zwischen Askese und sinnlicher Erfahrung oszilliert, im Sommer mit kühlem Wasser, das die Haut zusammenzieht, im Winter mit warmem Wasser, das die Poren öffnet, wenig Seife, weil die Haut ihre eigene Intelligenz besitzt, und dann nimmt er seine Kamera und geht hinaus, wobei ihm bewusst wird, dass die Stadt ihm ihre verdrängten Qualitäten zeigt, sobald er aufhört, sie funktional zu nutzen, dass Straßen ihre geologische Tiefe offenbaren, Gebäude ihre historischen Sedimente, dass ein Jugendstilornament neben einem Betonriegel neben einer gläsernen Fassade die Zeitschichten der Stadt erzählt, ohne dass man bewusst nach Geschichte suchen müsste, wobei sich diese organische Urbanität als leiblich spürbare Wirklichkeit manifestiert, dass die Atmung der Klimaanlagen mit dem Atemrhythmus des Gehenden korrespondiert, während die Schwingungen der U-Bahn unter den Füßen sich mit dem Herzschlag synchronisieren, die technische Infrastruktur nicht tote Materie, ein Stadtorganismus, der seine eigenen biologischen Rhythmen entwickelt hat, und später, viel später, sechs Uhr, flackert die erste Straßenlaterne an, defekt, unregelmäßig, und er denkt, dass das es ist, nicht das Kind, nicht das goldene Licht, dieses Flackern, diese Störung, diese Unregelmäßigkeit im System, dass gerade das Defekte, das Nicht-Funktionierende das eigentliche Motiv sei, weil es die Illusion der perfekten Stadtmaschine durchbricht, weil es zeigt, dass unter der Oberfläche etwas arbeitet, etwas versagt, etwas menschlich bleibt in dieser technisierten Umgebung, und er hebt die Kamera, endlich, nach drei Stunden des Wartens, hebt sie an, richtet sie auf das flackernde Licht, das flackernde Licht, das flackernde Licht…

…wobei Büttner manchmal auch gedankenversunken durch die Stadt schreitet, ohne Achtung auf Straßen, Häuser, Menschen, wobei er in präreflexiver Aufmerksamkeit ist, die Kamera nutzlos um seinen Hals hängt, und er sich erinnert, dass Husserl diesen Modus des Bewusstseins beschrieb, der die Welt als selbstverständlich gegeben hinnimmt, ohne ihre Gegebenheitsweise zu thematisieren, dass gedankenversunken durch die Stadt zu schreiten heißt: ohne Achtung auf die Stadt zu gehen, wobei hier sich keine Motivsuche durchführen lässt, und während er so geht, gedankenversunken, ohne Achtung auf die Stadt, entstehen in ihm keine Bilder, keine Kompositionen, keine Motive, nur ein Fließen, ein Dahintreiben, ein Sein ohne Ziel, und dann plötzlich, unvermittelt, wandert er mit der Leica vor Augen, wobei ihm klar wird, dass der Anblick der Dinge davon abhängt, wie er sie ansieht, dass diese Reziprozität des Blickens auf eine grundlegende erkenntnistheoretische Verschränkung verweist: dass das, was wir als objektive Realität zu erkennen meinen, sich erst in der Begegnung zwischen Bewusstsein und Welt konstituiert, dass wenn ich durch die Stadt gehe, um zu fotografieren, sich sowohl meine Sicht auf die Dinge als auch deren Sicht auf mich wandelt, diese Verschränkung, weder objektiv noch subjektiv, beide durchdringt, während die Straßen ihre geologische Tiefe zeigen, wobei die entstehenden Bilder eine eigenartige Stille entwickeln, die sich von konventioneller Street Photography fundamental unterscheidet, indem sie statt dramatische Höhepunkte oder spektakuläre Zufälle zu privilegieren das Gewöhnliche in Momenten seiner subtilen Transformation dokumentieren, dass er atmosphärische Qualitäten fotografiert, die anders nicht kommunizierbar wären, diese Dichte der Luft, diese Schwere des Lichts, diese Textur der Zeit selbst, wobei er spürt, dass der Akku bei 67% ist, dass etwa 400 Aufnahmen noch möglich sind, dass danach die Rückkehr zur Realität ohne Rahmen kommt, ohne Verschlusszeit, ohne die Möglichkeit des Rückgängigmachens, Leben in Echtzeit, unkorrigierbar, unwiederholbar, und er fragt sich, angelehnt an Flusser, der sich fragte, wie die vier Arten, durch einen Wald zu gehen, durch die Suche nach Stöcken umschlagen, so fragt er sich: dass die Leica vor Augen seine Art zu gehen verändert, dass sich das fotografierende Gehen vom gedankenversunkenen unterscheidet, vom betrachtenden, vom genießenden, vom heimsuchenden, wobei die Situationisten das ziellose Umherschweifen als erkenntnispoetische Praxis ergänzten, und dass der Anblick des Dings davon abhängt, wie ich es ansehe, dass die Stadt sich erst in der Begegnung zwischen seinem Bewusstsein und ihrer Welt konstituiert, dass er nicht die Stadt fotografiert, die Begegnung selbst, die Begegnung selbst, die Begegnung selbst…

…und manchmal, nur manchmal, zieht Büttner los, ausgerüstet wie für eine Safari, wobei er bemerkt, dass er keine Löwen jagt, Motive in den Vierteln, die er niemals bewohnen würde, weil dort nichts passiert, was sich als Leben auf der Straße verkaufen ließe, und er beginnt zu verstehen, dass Street Photography als eine der erfolgreichsten Legitimationsstrategien für das funktioniert, was man urbane Safaris der Mittelschicht nennen könnte, dass es eine Fiktion der Unsichtbarkeit des Fotografen gibt, die strukturell darauf angewiesen ist, dass die Fotografierten nicht die Macht haben, den Blick zurückzugeben, dass diese Asymmetrie nicht zufällig, konstitutiv für das Genre ist, wobei sich ihm die Frage stellt, warum bestimmte Räume systematisch aus dem street-fotografischen Kanon ausgeschlossen bleiben: Privatschulen, Golfclubs, Vorstandsetagen, die Innenräume von Luxusrestaurants, all jene Orte, wo die eigentliche gesellschaftliche Macht organisiert wird, die eben nicht auf der Straße liegen und deshalb außerhalb der Reichweite einer fotografischen Praxis bleiben, die ihre kritische Potenz daraus bezieht, dass sie vorgibt, das Leben in seiner unmittelbaren Form zu zeigen, während sie systematisch jene Bereiche ausblendet, wo die Bedingungen dieses Lebens verhandelt werden, und er denkt, dass dies eine urbane Distinktionspraxis der kulturellen Elite sei, die sich durch den Konsum von authentischen Bildern des Anderen ihrer eigenen aufgeklärten Sensibilität versichert, ohne jemals die strukturellen Bedingungen zu hinterfragen, die diese Bilder erst möglich machen, und doch geht er weiter, fotografiert weiter, weil er hofft, dass seine Praxis anders ist, dass sein Warten, sein Wu Wei, seine Entschleunigung etwas anderes hervorbringt als die übliche Ästhetik der Armut, der Exotisierung, der voyeuristischen Aneignung…

…und später, viel später, das letzte Bild heute: sein eigener Schatten auf dem Asphalt, Kamera deutlich erkennbar, Selbstporträt ohne Gesicht, Anwesenheitsbeweis ohne Person, wobei er begreift, dass der Fotograf als Schatten seiner selbst erscheint, festgehalten für einen Moment, der bereits vorbei ist, bevor er betrachtet werden kann, wobei dieser Schatten alles zusammenfasst, was sich nicht sagen lässt, diese Anwesenheit in der Abwesenheit, diese Sichtbarkeit des Unsichtbaren, dieses Festhalten des Flüchtigen, und Büttner geht weiter, geht immer weiter, durch die Stadt, die atmet, die pulsiert, die sendet, während er empfängt, während er durchlässig wird, während er sich auflöst in Licht und Zeit und Bewegung, bis er nicht mehr weiß, ob er fotografiert oder fotografiert wird, ob er sieht oder gesehen wird, ob er geht oder gegangen wird, dass diese Auflösung des Subjekts im Akt der Wahrnehmung selbst geschieht, dass diese Verschmelzung von Sehendem und Gesehenem, von Medium und Botschaft, von Fotograf und Fotografie das eigentliche Ziel ist, dass er nicht mehr Büttner ist, nur noch Durchgangsstelle, nur noch Öffnung, nur noch Licht, das durch Licht fließt, dass er nicht mehr da ist, nicht mehr da ist, nicht mehr da ist…